Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Das Leben ist kein Bausparvertrag fürs Jenseits“

Juli 2016

„Spiegel“-Redakteur Alexander Neubacher (48) wehrt sich gegen die Verbots- und Bevormundungsgesellschaft und sagt im „Thema Vorarlberg“-Interview: „Eine Politik, die verhindert, dass Bürger für sich selbst Verantwortung übernehmen, ist kontraproduktiv.“ Der Staat habe für den Bürger längst schon das Denken übernommen, mit gravierenden Folgen für die Gesellschaft. Den Grünen attestiert der Berliner Journalist „eine Persönlichkeits­störung, an der jeder Psychiater seine helle Freude hätte“.

Sie sagen in Ihrem Buch „Total beschränkt“ frank und frei: An die Stelle des Homo sapiens ist der Homo demenz getreten, der Trottelbürger. Das klingt krass.

Aber so ist es. Ich erinnere an den Geist der Aufklärung. Immanuel Kant ermunterte den Menschen zum Denken: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Heute ist der Zeitgeist ein anderer. Es gilt, was Heinrich Böll „fürsorgliche Belagerung“ genannt hat. Wir Bürger, die wir angeblich nicht mehr wissen, was gut für uns ist, werden nicht mehr ermutigt, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen. Stattdessen übernimmt jetzt der Staat für uns das Denken. Hilft er uns damit? Natürlich nicht. Überall dort, wo an die Stelle des Arguments ein Verbot tritt, stellen wir das Denken ein. Meine Sorge ist: Wir sind noch nicht die Trottelbürger, für die uns der Staat hält. Aber die Gefahr besteht, dass uns der Staat erfolgreich zum Trottel macht. Was wir derzeit erleben, ist die schleichende Entfähigung des Bürgers durch einen überfürsorglichen Staat, der sich zum Therapeuten und Helfer in allen Lebensbereichen aufspielt. Helikopter-Eltern zeigen, was die Folgen sind …

Wer bitte?

Jene überbesorgten Eltern, die ihre Kinder nie aus den Augen lassen aus Angst, es könne ihnen etwas zustoßen. Ich bin selbst Vater von vier Kindern. Ich will auch, dass es ihnen gut geht. Doch was passiert, wenn ich meinen Kindern keine Freiheiten lasse? Nur einmal nicht hingeschaut – und schon ist mein Kind, das nicht gelernt hat, sich selbst festzuhalten, vom Klettergerüst gefallen. Das ist der falsche Weg. Wir können ein Kind nicht in Watte packen. Es muss lernen, Risiken selbst einschätzen zu können. Und ganz ähnlich ist es im Verhältnis zwischen Staat und seinen Bürgern. Ein Staat, der uns Entscheidungen abnimmt, lässt unsere Risikokompetenz und unser Verantwortungsbewusstsein verkümmern.

Soll heißen: Je mehr sich der Mensch an das geregelte und genormte Leben gewöhnt, umso unfähiger wird er, Eigenverantwortung zu übernehmen?

Ja. Das ist der zentrale Punkt. Der Trottelbürger wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung. In Hamburg gab es bereits den Fall, dass ein Kunde einen Fischhändler verklagt hat, weil er sich an einer Gräte in einem Lachsbrötchen verschluckt hat. Der Kunde war der Ansicht, der Fischhändler hätte ihn warnen müssen. Früher hätte das Gericht einen solchen Menschen umstandslos nach Hause geschickt. Doch heute muss die Justiz seine Klage ernst nehmen, weil die schleichende Entfähigung des Bürgers ja längst in vollem Gange ist. Woher soll der Trottelbürger wissen, dass Fische Gräten haben? Der Händler wurde jedenfalls vom Gericht verpflichtet, ein großes Warnschild aufzustellen: Vorsicht, Fisch kann Gräten enthalten.

Sozialwissenschaftler Bernhard Heinzlmaier hat das so ausgedrückt: „Ziel ist es, den Menschen ein Leben lang im Zustand der Infantilität zu halten.“

Ich sehe vor allem die Gefahr, dass uns der Staat in den Zustand der Infantilität zurückdrängt. Unseren Kindern bringen wir bei, wie man auf eigenen Füßen steht. Aber als Erwachsene werden sie vom Staat dann wieder wie Kleinkinder behandelt.

Hat unsere Gesellschaft dadurch an Freiheit verloren?

Absolut. Das ist der Preis, den wir zahlen. Wir verlieren unsere Freiheit, ohne an Sicherheit zu gewinnen. Natürlich mag es im Einzelfall stimmen, dass der Verlust an Freiheit ein Zugewinn an Sicherheit ist. Aber es ist falsch, anzunehmen, man könnte den Menschen, bildlich gesprochen, in Noppenfolie einwickeln, um ihn gegen alle Risiken des modernen Lebens zu schützen. Was der Mensch lernen muss, ist, Risikokompetenz zu entwickeln. Denn am Ende führt eine Politik, die vorgibt, alle Risiken von uns fernzuhalten, eher dazu, dass wir uns zusätzlich und unnötig in Gefahr begeben, weil wir nicht mehr gelernt haben, mit Risiken umzugehen. Eine Politik, die verhindert, dass Bürger für sich selbst Verantwortung übernehmen, ist kontraproduktiv.

Sie zitieren, quasi als Abschreckung, an einer Stelle auch Benito Mussolini.

Ja, Mussolini sagte einmal: „Die Freiheit des Individuums muss umso mehr beschränkt werden, je komplizierter die Zivilisation wird.“ Diese Denkweise ist heute unter Juristen wieder sehr beliebt. Alles Neue, Unerforschte, womöglich Gefährliche muss ruckzuck verrechtlicht werden, rechtsfreie Räume sind nicht zu tolerieren. So entstehen zwangsläufig immer neue Vorschriften. Ich bin Volkswirt, kein Jurist, und habe deswegen einen anderen Zugang. Ich frage: Was ist der Preis, den wir für diese Verbote zahlen? Und ich meine nicht nur den in Euro und Cent ausdrückbaren Preis, sondern auch den Verlust an gesellschaftlichem Leben.

Wie ist das zu verstehen?

In vielen Kindergärten, Schulen und Sportvereinen in Deutschland, aber auch in Österreich, ist Eltern inzwischen verboten, bei Festen selbst gebackene Mehlspeisen zu verteilen: Hygiene! Den Hobbybäckern wird gleichsam unterstellt, sie trachteten danach, ihre Mitmenschen zu vergiften. Ein anderes Beispiel: In vielen Gemeinden darf wegen verschärfter Sicherheitsvorschriften kein Straßenfasching mit Umzugswagen mehr gefeiert werden. Oder das Thema Klassenfahrten: Ein Lehrer, der mit seinen Schülern einen Ausflug macht, steht wegen der vielen Haftungsregeln schon mit einem Bein im Gefängnis. Folge: Es finden keine Klassenfahrten mehr statt. Ich frage mich: Wie soll gesellschaftliches Leben so noch funktionieren? Aber all diese gesellschaftlichen Kosten tauchen im Kalkül der Juristen und Bürokraten nie auf. Ich plädiere deshalb für eine neue Betrachtungsweise: Wir sollten uns bei jedem Verbot immer sofort klarmachen, wie hoch der Preis oder der immaterielle Schaden ist, den wir dafür in Kauf nehmen müssen.

Sie warnen also vor einer Gesellschaft, in der derjenige bestraft wird, der Initiative zeigt, und derjenige belohnt wird, der nichts tut?

Wer nichts tut, macht auch nichts falsch, und das ist nach der Logik des Fürsorgestaats natürlich das Allerbeste. Bloß keine Verantwortung übernehmen! Papa und Mama Staat werden sich schon kümmern. Wie sich bei einer solchen Einstellung Mut entwickeln soll, Kreativität, Unternehmergeist und Kunst, ist mir schleierhaft. Wer in Deutschland morgens aufsteht, hat bis zu dem Moment, an dem er ins Bett geht, 250.000 Vorschriften zu beachten. Eine Viertelmillion Vorschriften! Das sind nur die bundesweit gültigen Regeln. Und es kommen ständig neue dazu. Natürlich brauchen wir Gesetze. Ohne Bürokratie kommt kein Staat aus. Wer nach Süd-Sudan oder in einen anderen gefallenen Staat reist, sehnt sich die Gründlichkeit eines preussischen Berufsbeamten schnell herbei. Ich plädiere deshalb auch nicht für rechtsfreie Räume oder das Faustrecht des Stärkeren. Von Isaiah Berlin stammt der Satz: „Die Freiheit der Wölfe wäre der Tod der Lämmer.“ Diese Art von Freiheit will ich nicht. In einer zivilisierten Gesellschaft haben auch die Lämmer das Recht, frei und unbeschwert zu leben. Bürokratie ist also per se nicht abzulehnen. Aber die Dosis macht das Gift. Und es hat den Anschein, als hätten unsere ermatteten und sicherheitsfixierten Gesellschaften, die über einen langen Zeitraum keine elementaren Probleme mehr zu lösen hatten, das richtige Maß verloren.

Sie haben im Buch den amüsanten Satz geschrieben: Lieber denken sich Beamte überflüssige Regelungen aus, als selbst überflüssig zu werden.

Das ist menschlich ja nur allzu verständlich: Kein Bürokrat möchte seinen Job verlieren. Deshalb neigt jede Bürokratie dazu, sich neuen Aufgaben zu erschließen und sich mit weiteren Planstellen vollzusaugen. Jeder Bürokratiechef misst seine Bedeutung daran, wie viele Unterbürokraten er kommandieren darf. Je mehr, desto besser.

Die Politik …

Ja, die Politik (schmunzelt). Ich halte ehrlich gesagt nicht viel von billiger Politikerschelte. Es gibt durchaus bemühte, engagierte Politiker. Ein Gemeinwesen muss organisiert werden, Politik muss Mehrheiten organisieren. Es kommt gerade beim Thema Regulierung häufiger vor, dass Politiker von den Bürgern getrieben werden. Auch wir Medienvertreter rufen mitunter zu oft und zu schnell nach immer neuen Verboten.
Sie sagen aber klar: Politiker sollen Volksvertreter sein, keine Volkserzieher.

Ja, denn viele Politiker scheinen leider zu vergessen, dass es hier einen wesentlichen Unterschied gibt. In Regierungskreisen sehr beliebt ist neuerdings das sogenannten Nudging, vom englischen Wort „to nudge“, zu deutsch: anstupsen. Die ach so defizitären Bürger sollen demnach nicht nur mit Verboten und Vorschriften geschulmeistert werden, man will sie auch mit subtilen Psychotricks, mit mentalen Schubsern dazu bringen, ein besseres Leben zu führen. Was mit besserem Leben gemeint ist, definiert natürlich die Politik. Den Schockfotos auf Zigarettenschachteln werden deshalb wohl schon bald Warntafeln auf Lebensmittelverpackungen folgen: Achtung – Fettleibigkeit! Ich finde das grauenvoll. Wir als Bürger sollten uns konsequent gegen diese Art von schwarzer Pädagogik verwahren. Denn hier wird meiner Ansicht nach eine Grenze überschritten. Der Staat unterstellt uns, wir hätten unser Leben nicht im Griff – eine Ungeheuerlichkeit. Es gibt auch ein Recht darauf, unvernünftig zu sein und Dinge zu tun, die vielleicht gesundheitsschädlich sind. Das Leben ist wild und abenteuerlich, aber genau deswegen macht es ja auch Spaß. Der einzelne Bürger ist für sich selber verantwortlich, auch wenn das für die Obrigkeit manchmal schwer zu ertragen zu sein scheint. Wer in der Lage ist, Politiker zu wählen, darf auch frei darüber entscheiden, ob er lieber Schokolade oder Äpfel isst.

Sie nehmen besonders die Grünen ins Visier. Wir zitieren aus Ihrem Buch: „Die Grünen plagt eine Persönlichkeitsspaltung, an der jeder Psychiater seine helle Freude hätte.“
Die Grünen bringen das Kunststück fertig, gleichzeitig für die Legalisierung von Marihuana und für das Verbot von Marzipanzigarren einzutreten. Nach dem Motto: Gebt das Hanf frei, aber die Schokozigarette muss weg. Das ist natürlich verrückt. Wer wie die Grünen für sich in Anspruch nimmt, auch mal einen unkonventionellen Lebensstil zu pflegen, kann nicht ständig wie die Supernanny mit erhobenem Zeigefinger vor dem Gesicht des Bürgers herumfuchteln. Interessant ist auch, dass die Grünen grundsätzlich gegen staatliche Überwachung sind, ohne zu erkennen, dass jedes neue Verbot automatisch zu mehr staatlicher Kontrolle führt. Denn die Obrigkeit muss natürlich darauf achten, dass ihre Verbote auch eingehalten werden, sonst macht sie sich lächerlich. Jede neue Regel ruft deshalb die Staatsmacht auf den Plan. Wer, wie die Grünen, ständig neue Verbote fordert, fordert damit auch mehr Überwachung. Ich will das nicht! Ich will keine Ordnungsmacht, die überall ihre Nase hineinsteckt. Ich möchte von staatlicher Kontrolle möglichst in Ruhe gelassen werden. Und schon deshalb bin ich dagegen, dass es ständig neue Verbote und damit Anlässe gibt, die den Staat ermächtigen, mir auf die Finger zu schauen.

Wie lautet Ihr Fazit?
Jura-Studenten bekommen im ersten Semester einen Satz von Montesquieu mit auf den Weg: „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“ Es wäre schön, wenn sich die Juristen auch nach ihrem Examen an diesen Satz erinnerten, statt ihn in sein Gegenteil zu verkehren. Ich bin auch der Meinung, dass wir Bürger uns häufiger wehren müssen. Wir sollten uns nicht alles gefallen lassen. Freiheit wird uns nicht gewährt, wie es oft heißt, sondern Freiheit gehört uns, wir dürfen sie uns einfach nehmen. Es tut gut, sich das vor Augen zu führen. Denn nach dieser Grundeinstellung muss die Politik begründen, warum sie unsere Freiheit einschränken will, und nicht wir müssen begründen, warum wir ein bisschen unserer Freiheit eigentlich gerne noch behalten würden. An die Politik geht klar die Aufforderung: Mut zur Lücke! Man muss nicht alles regulieren, man kann auch offene Bereiche lassen, man muss nicht jeden Freiraum zubetonieren. Vor allem muss man die Menschen nicht ständig vor sich selbst beschützen wollen. Und an alle Beteiligten könnte man den Appell richten: Lasst mal fünfe grade sein. Das Leben ist doch kein Bausparvertrag fürs Jenseits. Man muss nicht immer nur effizient sein. Man darf auch mal sündigen und sich unvernünftig verhalten. Deshalb bitte daran denken: Die kurze Phase vor dem Tod nennt man übrigens Leben.

Vielen Dank für das Gespräch!

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