Sabine Barbisch

Die Emanzipation des Essens - Wie die Esskultur Identität und Wertewandel widerspiegelt

Dezember 2016

Essen ist zum zentralen Thema unserer Alltagskultur ge­worden. Was wir wie, wann, wo und mit wem essen, sagt mehr über unsere Identität und unsere Werte aus als unser Kleidungsstil oder Musik­geschmack. „Unsere Ernährung zeigt Lebensgefühle und Sehnsüchte auf. In ihr spiegeln sich längerfristige gesellschaftliche Veränderungsbewegungen sowie der kulturelle Wertewandel wider“, sagt Food-Trendforscherin Hanni Rützler. Eine Spurensuche in Sachen Esskultur.

In der Geschichte der Menschheit war das Wissen über Nahrungsmittel nie größer als heute. Die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Ernährungsstile sind genauso erforscht wie die Wirkung einzelner Inhaltsstoffe. Es steigt die Zahl der Menschen, die besonders affin für die Herkunft, Herstellung und Zubereitung von Lebensmitteln sind und dem in ihrer Freizeit frönen. Kochbücher, Kochkurse und Selbstgemachtes liegen absolut im Trend. Gerade in unserer Gesellschaft ist der Überfluss an Nahrungsmitteln ein Normalzustand. Bei dieser, ohne Frage privilegierten Ausgangslage stellt sich für immer mehr Menschen die Frage, wie sie sich in diesem Überangebot überhaupt noch zurechtfinden sollen und woran sie sich in Sachen Esskultur orientieren können. Das simple „Was esse ich heute?“ wird so zur persönlichen Sinnfrage. Der Konsument verleiht der eigenen Persönlichkeit durch einen gezielten Konsum, oder eben durch den bewussten Verzicht auf bestimmte Lebensmittel, Ausdruck. So gelingt es abseits von Mode oder Musik, sich von anderen abzuheben. Mit dieser Individualisierung unserer Ernährung ist Essen zum zentralen Thema der Alltagskultur geworden. Im Zuge dieser Entwicklung verlässt das Essen seine angestammten Orte und emanzipiert sich völlig vom traditionellen Mahlzeitensystem. Diese neue Esskultur wird in sogenannten Food-Trends zusammengefasst, die ein interessantes Zeugnis der tiefgreifenden globalen und langfristig wirksamen Veränderungen unserer Gesellschaft sind und die Sehnsüchte und Werte unserer Gesellschaft widerspiegeln.

Nahrung als Instrument zur Selbstverwirklichung

Essen hat in den vergangenen Jahren an Normalität und Selbstverständlichkeit eingebüßt. Ernährung ist vielmehr ein Ausdruck der individuellen Werte geworden und wird immer mehr zum Spiegel der eigenen Persönlichkeit. „Essen ist aus der Normalität gerutscht. Es gibt zum Beispiel kaum noch gemeinsame Mahlzeiten im familiären Kontext. Seit der Jahrtausendwende hat etwa das Mittagessen, als einst wichtigste und gemeinschaftlichste Mahlzeit des Tages, seine Rolle stark eingebüßt“, sagt Hanni Rützler, Food-Trendforscherin und Gesundheitspsychologin. „Es passt nicht mehr in unsere Arbeitswelt, dass man sich mittags drei Gänge gefolgt von einer Pause gönnt. Das würde den Arbeitsfluss wie ein Mammut stören.“ Üppigere Menüs werden vielleicht noch am Wochenende gekocht und genossen, unter der Woche essen wir kleinere Speisen, die dafür öfter und unregelmäßiger. „Man darf nicht vergessen, dass die Struktur der Mahlzeiten noch aus dem agrarischen Zeitalter stammte und die Industrialisierung überlebte – insofern ist der Bedeutungsverlust des Mittagessens mit einem Erdrutsch für unsere Gesellschaft zu vergleichen“, macht die Expertin klar. Jeder entscheidet heute in einem immer jüngeren Alter, was er wann, wie und wo essen möchte. Es gibt zwar gemeinsame Mahlzeiten, die strukturieren aber nicht mehr den Tag. Essen ist eine neue Herausforderung und ein Ausdruck der eigenen Persönlichkeit geworden. Wie vor einigen Jahren mit Mode zeigt man heute mit der Art, wie man sich ernährt, wer man ist oder wer man sein möchte. „Es ist ein klares Statement über die eigene Werthaltung, wenn man sagt, dass man auf die Herkunft der Lebensmittel und deren Qualität achtet, ob man selbst Gemüse züchtet, auf Fleisch oder auch auf alle anderen tierischen Produkte verzichtet. Essen ist Ausdrucksform und Spiegel der Sehnsüchte“, fasst Rützler die neue Esskultur zusammen.

Oft fehlt das praktische Wissen über Essen

Das Wissen über Ernährungsthemen ist riesig und in weiten Teilen der Gesellschaft angekommen. „Allerdings wird das Thema Essen in unserem Umfeld sehr naturwissenschaftlich diskutiert“, sagt die Food-Trendforscherin. Das Wissen, wann ein bestimmtes Obst seinen perfekten Reifegrad erreicht hat, welche Gemüsesorten wann Saison haben, was ich aus welchem Stück Fleisch zubereiten kann, wie ich mit Resten umgehe und welche Gerichte ich ohne Rezept zubereiten kann, dieses Erfahrungswissen – und damit der Praxisbezug – sei aber verloren gegangen. Insgesamt werden Ernährungsentscheidungen immer bewusster getroffen. „Vor zwei Generationen wurde die expandierende großindustrielle Produktion von Lebensmitteln mit Applaus bedacht, heute traut man diesen Produkten nicht mehr“, beschreibt Rützler die Skepsis, die viele Konsumenten teilen. Die Gegenbewegung zu dieser Entwicklung ist meist der Griff zu regionalen Produkten. Für Rützler ist aber klar, dass das nur einen Teil des Problems lösen kann: „Wir müssen wieder mehr Beziehung zu unserem Essen herstellen. Das heißt, Betriebe zu öffnen, über Produkte und Herstellungsweisen zu informieren und die Konsumenten lernen zu lassen.“ Das unterstreicht auch „Jahrhundertkoch“ Eckart Witzigmann im „Thema Vorarlberg“-Interview: „Die erste Worthälfte des Begriffs ‚Lebensmittel‘ steht immer noch im Schatten der zweiten Hälfte, und dabei wird Essen leider immer noch als Mittel interpretiert, schnell und billig satt zu werden.“ Und obwohl wir in fast allen Teilen Vor­arlbergs nahe an der Landwirtschaft und anderen Lebensmittel produzierenden Betrieben sind, betrifft diese Distanz nicht nur die klassische urbane Bevölkerung. „Im ländlicheren Raum hat man vielleicht mehr Bezug zur Saisonalität als in einer großen Stadt, aber nur weil man öfters eine Kuh sieht oder einen Bauer kennt, hat man nicht mehr Ahnung über die Produktionsbedingungen einzelner Nahrungsmittel. Molkereien oder Metzgereien sind geschlossene Systeme, das Wissen darüber ist also nur vermeintlich“, bringt es Rützler auf den Punkt.

Ernährungstrends signalisieren eine bestimmte Wertehaltung

Das zu ändern ist auch in den Köpfen der Vorarlberger angekommen. Ernährungswissenschaftlerin Angelika Stöckler forscht, informiert und berät seit über zwanzig Jahren über Lebensmittel und Ernährung. Sie weiß: „Ernährungsbewusste Vorarlberger wollen beim Essen ein gutes Gefühl haben und legen Wert auf saisonales und regionales Essen. Sie wollen wissen, wie und von wem die Lebensmittel hergestellt werden. So rücken auch die Menschen hinter den Produkten ins Blickfeld.“ Das gesteigerte Bewusstsein für eine gesunde Ernährung und die Wichtigkeit der Nachvollziehbarkeit von Lebensmitteln hat ein Revival ausgelöst: „Selbermachen ist wieder trendig. Immer mehr Menschen begeistern sich für das Anbauen von Obst und Gemüse im eigenen Garten oder auf dem Balkon und finden Spaß daran, eingelegtes Gemüse, Marmeladen oder Müsliriegel selbst herzustellen.“ Ernährungstrends wie ein achtsamer Umgang mit Lebensmitteln, bei dem Reste vermieden oder verwertet werden, das sogenannte „clean eating“, bei dem auf verarbeitete Lebensmittel gänzlich verzichtet wird, eine vegane Lebensweise, die nicht nur die Ernährung, sondern auch Kleidung und Kosmetika umfasst, regionale Kost in Bioqualität und zunehmend auch Produkte, die frei von bestimmten Inhaltsstoffen, häufig Laktose oder Gluten, sind, beobachtet Stöckler auch in Vorarlberg immer öfter. „Wer sich einem solchen Food-Trend anschließt, signalisiert damit auch eine bestimmte Wertehaltung“, fasst Rützler zusammen. Ein Nebeneffekt dieser selbst gewählten Einschränkungen: Die Auswahl im Überangebot an Lebensmitteln wird reduziert und macht es für viele einfacher, sich im herrschenden Überfluss zu orientieren.

Bei all den Ernährungstrends, dem Überfluss an Lebensmitteln und den selbst auferlegten Regeln und Schranken, um wieder Orientierung im Nahrungsmittelangebot zu finden, sollte eines nie vergessen werden: Essen hält uns am Leben, es bereitet uns Genuss und es ist eine Freude, wenn man seine Mahlzeiten gemeinschaftlich einnimmt. „Das Genießen einer guten Mahlzeit ist ein Stück Lebensqualität“, sagt Hanni Rützler, die rät, die kommende Advents- und Weihnachtszeit als Chance für eine genussvolle Esskultur zu sehen: „Essen muss nicht dogmatisch sein, sondern soll uns neben lebenswichtigen Inhaltsstoffen vor allem Genuss bereiten.“ Ihr kleiner Tipp: „Nicht so schnell wie möglich alle Kekssorten durchprobieren, sondern die weihnachtlichen Bäckereien so langsam wie möglich genießen, um die ganze Geschmacksvielfalt zu erleben.“

 

Food-Trends, die laut Hanni Rützler bleiben werden

Gut und gesund: Dieser Trend zeigt die Sehnsucht vieler – auch junger – Konsumenten, diese beiden Begriffe in den Essalltag zu integrieren.

Selbermachen: Selbst Gemüse anbauen, Bier brauen, Marmelade oder Sirup machen – „do it yourself“ boomt und macht immer mehr Konsumenten Spaß. Dieser Trend gilt als besonders hip und wird als Signal gegen die jahrzehntelang gewachsene Entfremdung von unseren Nahrungsmitteln gesehen. Beim Selbermachen rücken auch Qualität und Handwerk wieder in den Fokus.

Global, Fusion, Hybrid: Vor allem in Gastronomie und im Lebensmittelhandel will man weiterhin mit kreativen Innovationen punkten. Regionale Lebensmittel boomen weiterhin, aber auch globale Ernährungseinflüsse lässt man sich nicht entgehen. Doch wenn die Vielfalt zur Norm wird, ist die richtige Vorauswahl für die Konsumenten – etwa in Form von Spezialisierungen – wichtig.

 

„Die erste Worthälfte des Begriffs ‚Lebensmittel‘ steht im Schatten der zweiten Hälfte“

Starkoch Witzigmann erzählt im „Thema Vorarlberg“-Interview von seinen kulinarischen Kindheitserinnerungen an Vorarlberg.

Sie wurden 1941 in Hohenems geboren und haben die Ferien bei Ihren Vorarlberger Verwandten verbracht. Hat Vorarlberg kulinarische Spuren hinterlassen?
An Hohenems habe ich zwar nur noch vage, aber sehr schöne Kindheitserinnerungen, etwa an große Feste mit der ganzen weitläufigen Familie, die wir dort besuchten. Ich habe bei meinen Tanten das erste Mal in meinem Leben mit der Muskatnuss Bekanntschaft gemacht. Für mich war das damals ja fast exotisch, jedenfalls vollkommen unbekannt. Meine Aufenthalte als Kind in Vorarlberg waren stets eine kleine Entdeckungsreise in die weite Welt der Kulinarik. Ohne Wenn und Aber gehören Leberspätzlesuppe und meine heißgeliebten Käsespätzle zu den Geschmäckern meiner Kindheit. Wegen denen kochten meine lieben Tanten um die Wette.

Haben diese kulinarischen Entdeckungs­reisen die Liebe zum Genießen und Kochen geweckt?
Ja. Unvergessen bleibt der Duft von frisch gebackenem Brot, das mein Onkel Josef und mein Cousin gebacken haben. Das war noch, wie es sein sollte. Mein Großvater war in Hohenems selbstständiger Bäckermeister, meine Großmutter eine Herrschaftsköchin. Und mein Cousin Herbert war sogar einer der jüngsten österreichischen Bäcker- und Konditormeister. Er ging in die Schweiz, arbeitete bei sehr guten Konditoreien und hat versucht, in Hohenems etwas ganz Feines anzubieten. Wenn ich als Kind meinen Urlaub in Hohenems verbracht habe, bin ich beim Ausliefern gern mitgefahren und war in der Backstube. Unvergessen sind diese super Brote, die Schweizer Laibe, und der Geruch am Morgen, wenn man den Raum betreten hat.

Diese traditionelle Handwerkskunst bleibt in unserer schnelllebigen Zeit aber zunehmend auf der Strecke. Wie kann man diesen Teil unserer Esskultur erhalten?
Da kann ich leider keine Patentlösung anbieten, das ist eine vielschichtige Aufgabe. Das geht in der Familie los und endet bei der Politik. Aber Verantwortungen zu verschieben löst auch keine Probleme. Ich denke, dass hier in erster Linie jeder Einzelne gefordert ist.

Sie haben während Ihrer langen Karriere unzählige Trends in Sachen Gastronomie und Ernährung erlebt. Haben Sie eine Ahnung, was in den nächsten Jahren auf uns zukommt?
Wenn ich das genau wüsste, würde ich mein Know-how teuer verkaufen (lacht). Aber ganz im Ernst: Aus den großen Trends werden häufig Eintagsfliegen, da wird jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Durch Globalisierung und Digitalisierung diversifiziert sich alles in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit, der normale Konsument tut sich schwer, zu unterscheiden, ob das nun wirklich ein neuer Trend oder nur eine geschickt inszenierte Kampagne einer PR-Agentur ist.

Einerseits top-informierte, anspruchs­volle Konsumenten, andererseits eine steigende Zahl ernährungsbedingter Krankheiten – brauchen wir mehr Bildung in Sachen Ernährung?
Die braucht es unbedingt, aber es ist ein langer und schwieriger Weg, die Dinge zu verändern. Die erste Worthälfte des Begriffs „Lebensmittel“ steht immer noch im Schatten der zweiten Hälfte, und dabei wird Essen leider immer noch als Mittel interpretiert, schnell und billig satt zu werden.

Welche Rolle spielen Spitzenköche wie Sie bei der Entwicklung der Esskultur?
Köche alleine sind sicher nicht in der Lage, Esskultur zu entwickeln, da bedarf es einer konzertierten Aktion. Wir Köche können vielleicht eine Entwicklung anstoßen und Zeichen setzen. Um daraus etwas für die Esskultur zu entwickeln, müssen alle involvierten Parteien mit am Strang ziehen. Die Köche alleine schaffen das nicht.

Vielen Dank für das Gespräch!

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.