Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Die Krise: ein Messfehler?

Oktober 2017

Ehrlich: Wann haben Sie zum letzten Mal die Rechnung bezahlt, die Ihnen die Firma Google für die Inanspruchnahme ihrer Suchmaschine zugeschickt hat? Und die der Firma Skype für Telefonate nach New York und Sydney haben Sie auch nicht bezahlt? Sie behaupten, sie hätten die Rechnungen gar nicht bekommen, das war alles gratis. Aber die Leistungen, die Sie in Anspruch genommen haben, waren doch nach herkömmlichen Maßstäben ziemlich viel wert?

Wirtschaftsforscher sind seit Jahren auf der Suche nach den Ursachen, warum das Sozialprodukt und die Produktivität langsamer wachsen als an der Jahrhundertwende oder noch früher: Der technische Fortschritt könnte erlahmt sein, oder die Investitionen und die Ausgaben der privaten Haushalte. Aber werden uns nicht täglich faszinierende Perspektiven der digitalen Welt vorgeführt und revolutionäre Behandlungsmethoden in der Medizin, gestützt auf moderne Biotechnologie und regenerative Verfahren – Ersatzorgane aus dem 3D-Drucker? Was soll also die düstere Perspektive einer säkularen Stagnation? Nicht Stagnation ist das Thema, sondern das Mitkommen mit einer rasend schnellen Entwicklung.

Nach längerer Suche und Zuflucht zu wenig plausiblen Theorien stieß die empirische Forschung auf ein an sich altbekanntes Problem: Messen wir eigentlich den Fortschritt richtig? Vor allem, drückt sich verbesserte Qualität und Leistungsfähigkeit immer in einem entsprechenden Preisanstieg für die Konsumenten aus? Das Problem spielt eine Rolle bei den Erhebungen für den Verbraucherpreisindex und, damit im Zusammenhang, bei der Berechnung des Volumens der Wirtschaftsleistung: Vereinfacht gesprochen stellt das sogenannte reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) die Wertschöpfung zu laufenden Preisen minus dem Preisanstieg dar. Wenn die auf dem Markt geltenden Preise nicht alle Formen der Verbesserung der Qualität enthalten, dann wird der Preisanstieg überschätzt und der reale Nutzen, den der Käufer hat, unterschätzt. Wenn nun aber die Bedeutung der nicht erfassten Qualitätsverbesserungen zunimmt, bleiben die gemessene Kaufkraft der Einkommen und das „reale“ BIP hinter dem Nutzen stärker zurück als früher. Daraus resultiert eine statistische Verlangsamung des Wirtschaftswachstums und der Produktivität, die dem tatsächlichen Fortschritt nicht entspricht.

Qualitätsverbesserungen sind oft unauffällig und schlagen sich nicht im Verkaufspreis nieder. Wenn die neue Version eines Automodells oder eines Handys auf den Markt kommt, wird nicht selten der Verkaufspreis in der gleichen Größenordnung gehalten, obwohl die neuen Modelle einige durchaus nützliche Verbesserungen bieten, weil die Konkurrenz und die Einkommenslage der Käufer dazu zwingen: der Treibstoffverbrauch durch effizientere Motoren (wie wir nun leider wissen: nicht unbedingt der Abgasausstoß), das jüngere Handy XY3 enthält gegenüber dem Vorgängermodell XY2 bei annähernd gleichem Preis einige neue Features, nützliche und manchmal auch unnütze, das XY4 integriert sogar eine Kamera und im allerneuesten XY7 schafft die Kamera schon eine Auflösung von doppelt so vielen Pixeln.

Technischer Fortschritt ist „unermesslich“. Wenn ich mich erinnere, wie teuer vor ein paar Jahrzehnten die Anschaffung des ersten Zentralrechners von UNIVAC im WIFO war, und wie viel weniger die Ausstattung der Arbeitsplätze mit intelligenten Notebooks oder Tablets heute kostet, und mehr noch, dass diese eine um ein Vielfaches höhere Rechenleistung als der erste Mainframe bieten, dann wird das klar. Oder welch geringen Komfort der Wirtschaftswunder-Käfer der Fünfziger- und Sechzigerjahre aufwies im Vergleich zu einem aktuellen Ein-Liter-Kleinwagen; und um wie viel mehr der heutige an Leistung und auch Sicherheit bietet! Und trotzdem kostet das moderne Auto gemessen am Einkommen weniger als damals.

Das spielt sich nicht nur beim technischen Fortschritt und in der Hightech ab. Auch organisatorische Verbesserungen bis hin zum öffentlichen Dienst wurden besser, schneller und kundenfreundlicher (ja, zugegeben, nicht alle), ohne dass die Gebühren entsprechend stiegen. Die Jahreskarte des Verkehrsverbunds Vorarlberg ist nicht nur kostengünstiger als früher getrennt gekaufte Fahrkarten bei der Bahn und dem Postbus. Ihre Benützung ist auch praktischer als früher, und die Fahrpläne sind besser aufeinander abgestimmt. Sogar noch kurz vor 22 Uhr fährt der Landbus Bregenzerwald vom Bregenzer Bahnhof nach Egg-Großdorf. Zudem sind die Öffis komfortabler und sicherer geworden.

Zurück zu unserem Thema: Vielleicht geht die von der Wirtschaftsstatistik ausgewiesene Wirtschaftsflaute auf Messfehler zurück. Zum Teil, natürlich nicht zur Gänze, weil ja so manches heute volkswirtschaftlich nicht so optimal ist: Arbeitslosigkeit im Alter und bei Schulabbrechern, fast keine Zinsen auf Sparbücher, hohe Staatsschulden trotz hoher Steuerbelastung, überfüllte Studien an Universitäten und zu wenig Lehrkräfte, Pflege- und Gesundheitspersonal.

Probleme der Qualitäts- und Nutzenmessung in der Wirtschaftsentwicklung sind an sich nicht neu. Sie haben immer schon Messungen der Wirtschaftsstatistik auf längere Sicht systematisch verzerrt und auf lange Sicht eigentlich unbrauchbar gemacht. Zu „messen“, dass das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner seit dem Krieg (1950) auf das Achtfache gestiegen ist, unterschätzt die Verbesserung der materiellen Wohlfahrt. Unsere Welt ist eine andere geworden, das lässt sich nicht mit einem einzelnen Indikator messen. Eigentlich ist der Maßstab BIP für so langfristige Vergleiche ziemlich sinnlos. Zugegeben: Manches hat sich seither auch verschlechtert und schlägt sich im BIP ebenso wenig nieder.

In einer auf Hochtechnologie und auf immer mehr Dienstleistungen gebauten Wirtschaft werden die Mängel der Messung immer gravierender. Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung wurde in den Dreißigerjahren entwickelt. Damals bedeutete „Wirtschaft“ in viel höherem Maße die Produktion von leichter messbaren Quantitäten an Industrieprodukten: Etwa Stahl oder Textilien. Seither haben sich die Qualitäten ausdifferenziert und Dienstleistungen an Bedeutung gewonnen, bei denen Preis und Nutzwert oft weit auseinanderfallen. Das BIP ist ein Kind des Industriezeitalters. Als solches taugt es eher kurzfristige Betrachtungen: etwa für die Konjunkturanalyse über einen Zeitraum von, sagen wir, ein paar Jahren. Aber so etwas wie „Lebensqualität“ hineinzuinterpretieren, ist nicht nur problematisch, sondern irreführend. Und dennoch sieht besonders die politische Diskussion nach wie vor die Steigerung des BIP als Maßstab für die Verbesserung der Lebensumstände an.

Wir sollten uns öfter vor Augen halten, dass Lebensziele, Lebensstil, der gesellschaftliche Rahmen, Zukunftssicherheit, Verantwortung für kommende Generationen und natürlich so fundamentale Qualitäten wie Gerechtigkeit und erfülltes Leben nicht direkt durch die Steigerung des Bruttosozialprodukts auszudrücken sind.

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