Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Die Macht der Manipulation

Mai 2018

Buchautor Johannes Steyrer (62) sagt im Interview, dass der Mensch im Alltag „häufiger als gedacht“ manipuliert werde: „Und wer es verabsäumt, sich mit Manipulation zu beschäftigen, wird deren willfährige Beute – denn wirkliche Manipulation erkennt man nicht als solche.“ Der Soziologe und Betriebswirt über Phänomene der Manipulation, besonders perfide Methoden – und Möglichkeiten, sich selbst zu schützen.

In welchem Ausmaß wird der Mensch denn täglich manipuliert?

Jedenfalls kommt es häufiger vor, als wir denken. Die Grenzen zwischen Führen und Verführen, Motivieren und Manipulieren sind dabei fließend. Manipulation hat übrigens drei Merkmale. Erstens: Sie nützt primär dem Beeinflusser. Zweitens: Sie wird nicht durchschaut. Drittens: Der Beeinflusste glaubt, sich frei entschieden zu haben. Wir alle bemühen uns ständig, andere zu beeinflussen, damit sie anders denken, fühlen und handeln, ob als Partner, Eltern, Lehrer, Vorgesetzte, Verkäufer …

Enthält Ihr aktuelles Buch auch deshalb die recht drastisch klingende Warnung: „Wer es versäumt, sich mit Manipulation zu beschäftigten, wird deren willfährige Beute“?

Ja, weil man wirkliche Manipulation nicht als solche erkennt. Warum? Manipulation ist nicht Einreden oder Überzeugen. Da erntet man nur Widerstand. Man muss es so anlegen, dass sich die Menschen selbst das einreden, was sie von ihnen wollen. Wir alle glauben, dass wir Menschen das tun, was wir wollen. Natürlich ist das der Fall. Aber auch das Gegenteil trifft zu: Wir Menschen wollen das, was wir tun. Eine Grundregel der Manipulation lautet daher, nicht Einstellungen, sondern Handlungen zu beeinflussen. Wenn wir etwas tun, dann rechtfertigen wir das vor uns selbst. Dann reden wir uns das ein, was andere von uns wollen. Man nennt das etwa die Fuß-in-die-Tür-Technik. Beispielsweise verdreifachen sie Spendenraten für die Krebshilfe, wenn Leute zuvor eine Anstecknadel tragen. Das funktioniert auch beim Anbandeln: Die direkte Frage, ob eine Frau auf einen Drink mitgehen möchte, war nur in drei Prozent der Fälle erfolgreich. Erkundigten sich die Männer zuvor nach einer Straße und sprachen dann die Einladung aus, nahmen 16 Prozent der Frauen die Einladung an. Wissen um all diese Prozesse ist dann ein Akt des Selbstschutzes.

Weil wir Menschen – ein Zitat aus Ihrem Buch – beispielsweise „nicht kaufen, was wir wollen, sondern, was uns gekonnt untergeschoben wird“?

Ich gebe Ihnen dazu ein Beispiel: Ich fuhr mit dem Auto meiner Frau am Randstein an. Der rechte Hinterreifen war aufgeschlitzt. Ich rief beim Reifenschuster an, weil wir den Wagen dringend brauchten. Der sagte mir, dass am Freitag früh Schluss sei und alle Boxen besetzt seien. Montags könnte ich kommen. Ich beschwerte mich, weil man mich als treuen Kunden jetzt so im Stich ließ. Aus Kulanz nahm man mich aber freitags noch dran. Im Geschäft wurde ich aufgeklärt, dass auf einer Achse nur zwei Reifen derselben Sorte montiert werden sollten. Die jetzt montierten wären aber nicht vorrätig. Zwei neue Reifen würden 180 Euro kosten. Ich war klarerweise über den Preis und mein Missgeschick ziemlich verärgert. Dann machte man mir ein Angebot: Vier Winterreifen um 299 Euro. Außerdem seien ja – so die weitere Auskunft – meine alten Reifen sowieso grenzwertig. Klarerweise überlegte ich, ob ich nicht gleich vier kaufen sollte. Vorsichtshalber erkundigte ich mich nach der Marke. Antwort: Es seien rumänische Reifen. Ich war, wie man sich denken kann, ziemlich skeptisch. Dann erhielt ich ein zweites Angebot: Nur mehr diese Woche gäbe es vier neue Michelin-Winterreifen, die normalerweise 690 Euro kosten, um den Preis von 490 Euro. Da habe ich zugeschlagen. Stellen Sie sich jetzt umgekehrt vor, man hätte mir bei meinem Anruf gesagt, ich könnte gleich vorbeikommen, aber nur dann, wenn ich vier neue Michelin-Reifen kaufen würde. Meine Frau hat mich dann aufgeklärt, dass wir erst zwei Jahre davor vier neue Goodyear-Reifen gekauft hätten. Nach dieser Erfahrung begann ich, mich mit Manipulationstechniken im Verkauf zu beschäftigen.

Welche Formen der Manipulation wurden in diesem Beispiel angewandt?

Ich bin schon mit einem schlechten Gewissen hingekommen, weil man für mich am Freitag noch etwas getan hat. Gefälligkeiten und das Gegenseitigkeitsprinzip sind starke Manipulationsmittel. Dabei geht es darum, einen Kreis moralischer Schuldner um sich zu scharen, auf deren Dankbarkeit man im Bedarfsfall zurückgreifen kann. Networking basiert auf diesem Prinzip. Aber zurück zur Reifenmanipulation: Dann wurde mit den 180 Euro für zwei Reifen ein Anker gesetzt. Im Kontrast dazu erschienen die 299 Euro für vier Reifen als Kinkerlitzchen. So entschied ich mich für vier Reifen. Dem folgte die Angst, einen Blödsinn zu kaufen, was mit der menschlichen Verlustaversion zu tun hat. Die ist besonders stark. Zu guter Letzt kam das Lockvogelangebot, das zeitlich limitiert war und auf dem Trick basierte: „List high, sell low“. Also teuer anschreiben und billig verkaufen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Feststellung: Die Bankomat- oder Kreditkarte sitzt lockerer als das Bargeld …

Das dahinter stehende Phänomen wird „Zahlungsschmerz“ genannt. Es tut weh, an der Tankstelle in die Börse zu greifen und fürs Volltanken sechs Zehn-Euro-Scheine hinzublättern. Lauter kleine Nadelstiche! Deutlich leichter fällt uns da der Griff zur Bankomat- oder Kreditkarte. Kumuliert haben Sie im letzten Monat via Kreditkarte 1500 Euro ausgegeben. Tut weh. Aber eben nur einmal. Wie viel mehr Überwindung würde es kosten, 150 Mal in die Tasche zu greifen und jedes Mal zehn Euro auf den Tisch zu legen? Zu den Kreditkarten ist noch was anderes zu sagen: In einer Studie wurden Personen, die gerade einkaufen waren, bezüglich ihrer Ausgaben interviewt. Zwei Drittel der Barzahler erinnerte sich an die Ausgabensumme. Bei den Kreditkartenzahlern war es bloß ein Drittel. Dazu kommt: Die restlichen zwei Drittel unterschätzten ihre Ausgaben beziehungsweise konnten sich an sie überhaupt nicht mehr erinnern. Kreditkarten vermitteln die Illusion, weniger bis gar nichts ausgegeben zu haben.

Diskutieren wir eines Ihrer Beispiele? Sie verkaufen ein edles Möbelstück, preisen das Stück im Internet einmal um 1200 und einmal um 1185 Euro an. Das niedrigere Angebot ist das bessere. Warum denn?

Das hängt mit dem Ankereffekt zusammen. Beim Ankereffekt wird ein Referenzpunkt zum Maßstab, der dann die Urteilskraft vernunftwidrig beeinflusst. Diese Bezugspunkte, selbst wenn sie höchst willkürlicher Natur sind, zurren uns in unseren Sichtweisen fest und beeinträchtigen die Folgeentscheidungen. Das klingt ziemlich kryptisch. Daher folgender Untersuchungsbefund: Sie werden nach den letzten beiden Zahlen Ihrer Sozialversicherungsnummer gefragt. Die schwankt zwischen 00 und 99. Dann nehmen Sie an einer Auktion teil, wo Weine, Brüsseler Konfekt oder ein drahtloses Keyboard zu ersteigern sind. Erstaunlich, aber wahr: Personen mit Nummern zwischen 80 und 99 sind bereit, für das Keyboard 56 Dollar zu zahlen, während diejenigen mit Nummern zwischen 00 und 20 dafür nur 16 Dollar hinblättern wollen. Zurück zu Ihrer Frage nach dem Möbelstück: In Verkaufsverhandlungen geht es darum, wechselseitig Konzessionen zu machen. Wenn Sie einen Anker von 1200 setzen, dann ist der nächste Sprung ein Hunderter. Das schmerzt. Mit einem Anker von 1185 können Sie im Zehnerbereich Konzessionen machen. Das tut viel weniger weh.

Sie raten dem Menschen, egal ob er nun als Käufer oder als Verkäufer auftritt, den ersten Schritt zu setzen. Und wieder stellt sich die Frage: Warum?

Auch das hängt mit dem Ankereffekt zusammen. Mit einem Anker wird ein suggestiver Ausgangspunkt festgelegt, der der anschließenden Entscheidung maßgeblich seinen Stempel aufdrückt. In simulierten Verkaufsgesprächen über eine Fabrik einigten sich Personen im Schnitt auf einen Preis von 19,7 Millionen Dollar. Nannte der Verkäufer als Erster einen Preis, erzielte er 24,8 Millionen Dollar. Umgelegt auf Ihren erzieherischen Alltag heißt das, Sie und nicht Ihre Kinder leiten die Verhandlungen zur Bettgehzeit ein.

Die Quintessenz der Manipulation lautet: Erkläre Menschen für frei und zwinge sie indirekt. Wie ist das zu verstehen?

Wir Menschen haben ein grundlegendes Bedürfnis nach Freiheit. Werden wir gezwungen, eingeengt, überredet, empfinden wir das, was uns entzogen wird, wertvoller und wichtiger als zuvor. Daraus leitet sich eine andere wirkungsvolle Technik ab, die einfacher nicht sein könnte. Sie fügen Ihrer Beeinflussung hinzu: „Aber selbstverständlich können sie frei entscheiden, ob sie das wollen oder nicht!“ Das hat man eindrucksvoll getestet. Versuchspersonen hatten im öffentlichen Bus das Fahrgeld vergessen. Wenn Sie direkt fremde Personen um Aushilfe baten, halfen 16 Prozent aus. Dann wurde die Zauberformel hinzugefügt „Aber fühlen sie sich nicht verpflichtet …“ Das trieb die Erfolgsquote auf fabelhafte 41 Prozent.

Sie beschreiben verschiedene Methoden der Manipulation. Welche ist denn die perfideste?

Die hinterhältigste Form der Manipulation ist die Tür-vor-den-Kopf-Technik. Die geht so: Im ersten Schritt stellen Sie eine überzogene Forderung. Die wird mit einem Nein beantwortet. Im zweiten Schritt geben Sie sich dann bescheidener. Im Vergleich zum Erstanliegen erscheint das zweite dann als Lappalie. Geht uns jemand entgegen, fällt ein zweites Nein umso schwerer. Dazu folgendes Beispiel: Die Mathematikschularbeit Ihres Sohnes steht bevor. Wie bringen Sie ihn zum Lernen? A. Sie bitten ihn, 20 Beispiele zu lösen. B. Sie bitten ihn zuerst fünf, und dann 20 Beispiele zu lösen. Das entspricht der Fuß-in-die-Tür-Technik. C. Sie bitten ihn zuerst 100 Aufgaben zu lösen. Das schockierte ihn zu Recht. Dann legen Sie ihm 20 Aufgaben vor. Das entspricht der Tür-vor-den-Kopf-Technik. Alle drei Varianten wurden getestet. Variante A. führte in 35 Prozent der Fälle zum Erfolg, B. in 60 Prozent und C. sogar in 90 Prozent.

Und wie schützt man sich? Lässt sich da – abschließend – ein genereller Tipp geben?

Der beste Weg aus Manipulationsfallen zu entkommen, ist ein frühzeitiges und beharrliches Nein. Selbst am Arbeitsplatz ist ein abgrenzendes Nein meist nur kurzfristig eine Ungehörigkeit. Es wird schneller verziehen, als man glauben möchte. Warum ist das so? Wir alle neigen dazu, unsere Bedeutung zu überschätzen – und zwar sowohl im Positiven als auch im Negativen. Spätestens überübermorgen ist das Nein Schnee von vorvorgestern. Je länger wir mit einem Nein zuwarten, desto höher werden die psychologischen Kosten und desto schwerer kommt uns ein Nein über die Lippen. Wir müssten dann vor uns selbst einbekennen, ein Dummkopf zu sein, der nicht weiß, was er will. Daher lautet die Quintessenz des Selbstschutzes vor Manipulation: Alle Räder stehen still, wenn ein starkes Nein das will. Noch was: Trifft man auf Lockvogelangebote, muss man sich fragen, ob man das zum alten Preis auch gekauft hätte oder nur zum reduzierten. Ist das nicht der Fall, dann kauft man nur wegen des Rabatts und nicht deshalb, weil man das Produkt haben möchte.

Vielen Dank für das Gespräch!

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