Herbert Motter

Die virtuelle Entledigung aller Hemmungen

Dezember 2016

Chatrooms, Gästebücher, Foren, Facebook, Twitter – das Internet liefert unzählige Gelegenheiten, sich auszutauschen, aber auch seinem Ärger und Frust kräftig Luft zu machen. Scheinbare Unsichtbarkeit enthemmt.

Das Internet kennt keine Grenzen, Schamgrenzen schon mal gar nicht. Im World Wide Web herrscht meist Ano­nymität. Sie ermöglicht dem Nutzer (User) zum einen zwar mehr Offenheit und Freiraum – im Chat, beim „Surfen“ oder bei Online-Käufen –, führt zum anderen aber in Kommunikationssituationen zu erhöhter Emotionalität. Diese Anonymität verstärkt den Einsatz aggressiver Sprachgebrauchsmuster.

Vielfach fallen die Hemmungen, verzerrte Wirklichkeiten werden verherrlicht und beschrieben. Die Chance zur Kontrolle ist gering, bei Beleidigungen und Hasstiraden werden oftmals Schamgrenzen überschritten. Die im Realen oft Stillen lassen im Internet die Schrift zur Stimme werden. Dabei wird ihre Sprache zu einem gefährlichen, höchst einflussreichen und häufig unterschätzten Machtinstrument.

The Big Escape

Meist ist aber „the big escape“, diese Flucht in die virtuelle Welt, auch ein Rückzug – für diejenigen, die im realen Leben nicht zurechtkommen und Probleme mit sozialen Kontakten, in der Partnerschaft oder im Beruf haben. Die heimische PC-Situation simuliert Privatheit sowie Sicherheit und blendet zum Zeitpunkt des Schreibens das Bewusstsein für die breite Zugänglichkeit des Geschriebenen in der Öffentlichkeit aus. Andere wiederum reizt genau der Umstand, viele über das Netz zu erreichen – und das im Schutz der Anonymität. Immer wieder ist von der Macht der Namenlosen die Rede.

Das bestätigt auch Fabiola Gattringer, Mediensoziologin mit Forschungsfokus Medienpsychologie an der Johannes Kepler Universität Linz: „Wenn jemand eher introvertiert oder schüchtern ist, eröffnen soziale Netzwerke die Möglichkeit, ohne unmittelbaren Face-to-face-Kontakt mit anderen zu kommunizieren und dabei auch mehr Bedenkzeit für Antworten zu haben, da man eine Rückmeldung vor dem Absenden ja auch noch einmal in Ruhe durchlesen kann. Andererseits bieten soziale Netzwerke für eher extrovertierte Personen die Möglichkeit, mit noch mehr Personen in Kontakt zu treten, also ein viel größeres Publikum zu erreichen.“

Soziale Netzwerke bilden in gewisser Weise eine digitale Erweiterung unseres gesellschaftlichen Umfelds, die soziale Interaktion und Entertainment (oder auch Infotainment) vereint. Problematisch wird es für Gattringer dort, wo speziell textbasierte digitale Kommunikation primär zum Ausdrücken der eigenen Meinung und oft ohne konkreten Kommunikationspartner passiert, etwa bei Kommentaren auf Nachrichten-Websites oder in sozialen Netzwerken. „Durch die digitale Online-Kommunikation, die meist asynchron und textbasiert ist, findet eine gewisse soziale Enthemmung statt, weil das konkrete Gegenüber fehlt.“ Die Qualität der Online-Plattformen und ihrer Anbieter variiert dabei sehr stark. Während auf diepresse.com, derstandard.at oder profil.at Forumsteilnehmer sich mit ihrem richtigen Namen äußern, setzen etwa vol.at und heute.at weiter auf Anonymität für die Online-Schreiber. Der Redaktion sind die „Kommentatoren“ durch die Registrierung allerdings bekannt.

Ingrid Brodning, netzpolitische Redakteurin und Autorin des Buchs „Der unsichtbare Mensch“, hält fest: „In absoluten Systemen oder Krisenzeiten kann Anonymität lebensnotwendig sein. Derzeit stellt uns der Balanceakt zwischen dem schützenswerten Recht auf Privatsphäre und dem Bedürfnis nach einem respektvollen Zusammenleben vor neue Herausforderungen. Gerade im Netz zeigt sich die Schattenseite der Namenlosigkeit, in Online-Foren wütet die anonyme Masse. Denn die scheinbare Unsichtbarkeit im Netz enthemmt virtuelle Diskussionen maßgeblich.“ Das Web sei kein Raum, der losgelöst vom Rest der physischen Welt existiere.

„Social bubble“

Zusätzlich bewegen sich – nach Meinung von Fabiola Gattringer – Personen oft in ihrer „social bubble“, in der eine gewisse Meinung und Kommunikationsart der Gruppennorm entspricht, aber eventuell nicht konform mit allgemeinen Regeln der höflichen Konversation einhergeht – und schon gar nicht mit der Meinung einer anderen sozialen Gruppe.

Vielfach fehlt jedoch der Widerspruch gegenüber aggressiven Usern. Immer mehr hasserfüllte Kommentare stehen einer vergleichsweise geringen Zahl von zu Toleranz aufrufenden Stellungnahmen gegenüber. Und das entpuppt sich als Teufelskreis: „Je mehr enthemmte Kommentare widerspruchslos erscheinen, desto größer wird die Bereitschaft, sich an dieser Kommunikation auch zu beteiligen“, sagt die deutsche Linguistin Monika Schwarz-Friesel von der technischen Universität Berlin.

Doch wie begegnen?

Die Psychologin Robin Menges schrieb 2015 in einem „Standard“-Kommentar: „Die Gesellschaft muss sich trauen, Konflikte einzugehen mit Menschen, die verbale Gewalt als legitimes Mittel der Gefühlsäußerung sehen“, und führt weiter aus: „Manchmal rütteln Daten, Zahlen und Fakten auf, aber unser Weltbild wirklich erschüttern tun sie selten. Das tun sie auch aus gutem Grund nicht, da unsere Überzeugungen und unsere Weltsicht, unsere Ängste und Sicherheiten viel tiefer verwurzelt und aus den Beziehungen und Interaktionen unseres bisherigen Lebens entstanden sind.“

Für die Medienpsychologin Gattringer besteht die Tendenz, dass Negatives stärker wahrgenommen wird, was in Diskussionen dann die Spirale nach unten verstärkt: „Die Möglichkeit der Online-Partizipation an gesellschaftlicher Meinungsbildung ist für den Menschen ein wichtiger autonomer Moment, aber auch mit Verantwortung verbunden.“ Die leider immer häufiger verkannt wird.

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