Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Ein Chronist des Schreckens

Februar 2018

Der Islamische Staat scheint bezwungen, einst von ihm kontrollierte Gebiete sind befreit, die meisten seiner Führer tot. Und doch habe sich an den Umständen, die den IS einst groß werden ließen, nichts geändert, sagt Kriegsberichterstatter Christoph Reuter (50): „Im Gegenteil, es ist eher schlimmer geworden.“ Ein Interview mit dem Autor des preisgekrönten Sachbuchs „Schwarze Macht“ – über Strategen und Strategien des Terrors, fatale Entscheidungen und Assads falsches Spiel.

Sie sind wenige Tage vor unserem Gespräch aus dem Irak zurückgekommen: Was ist denn der Islamische Staat heute? Nicht mehr existent? Oder gefährlicher denn je?

Weder noch. Die beiden Extreme treffen nicht zu. Es ist ein facettenreicheres Bild. Der IS hat sehr viele Kämpfer verloren, er hat seine Einnahmequellen verloren, die Ölquellen und die Städte. Er hat aber Verhältnisse entstehen lassen, die für seinen Wiederaufstieg – wenn er denn noch genügend Personal hat – ausgesprochen günstig sind.

Inwiefern?

Der IS und seine Vorgängerorganisationen haben nicht nur die US-Amerikaner, die Ungläubigen, bekämpft. Nein, sie haben auch schiitische Muslime in großem Stil umgebracht. Während Osama bin Laden Terror gegen Schiiten noch verdammt hatte, mit dem Argument, es gebe keine Legitimation für Morde unter Muslimen, war es Kalkül des IS, Schiiten und Sunniten in einen Krieg zu treiben. Einen Krieg, den die Sunniten als Minderheit im Irak nicht gewinnen können und der sie deswegen dazu bringt, den IS als Schutzmacht zu akzeptieren. Und seit 2014 befreien schiitische Milizen Gegenden vom IS, indem sie nun ihrerseits ganze Dörfer dem Erdboden gleichmachen und Sunniten umbringen und terrorisieren. Im Zentral- und Nord­irak herrscht ein Klima der Angst. Eines, das nicht enden wird – und das es jeder Form einer militanten Gegenbewegung nach einer gewissen Zeit wieder relativ leicht machen wird, wieder Anhänger zu sammeln.

Im Dezember 2017 hatten die irakische Regierung und das russische Verteidigungsministerium den IS im Irak und in Syrien für besiegt erklärt. Stimmt das denn so?

Es stimmt in weiten Teilen für den Sieg gegen das Kalifat. Der IS hat die offene Kontrolle über Fläche, über Gebiete fast überall verloren. Er kontrolliert keine Großstädte, überhaupt keine Städte mehr. Aktiv ist er nur noch in ländlichen Gegenden, etwa in Wüstenabschnitten, in denen man Herrschaft allerdings schlecht konstituieren kann. Die Zeiten der offenen Machtausübung sind vorbei. Aber wenn man den IS und seine Geschichte über einen längeren Zeitraum betrachtet, sieht man, dass er über Jahre hinweg ganz hervorragend im Untergrund, ohne offene Machtausübung, funktioniert hat.

Sie schreiben in Ihrem Buch „Schwarze Macht“, dass der IS im Chaos 2003 entstanden ist – nach dem Irak-Krieg.

Paul Bremer, der frühere US-Zivilverwalter im Irak, hatte Ende Mai 2003 mit seinen ersten beiden Dekreten die gesamte Armee und sämtliche Geheim- und Sicherheitsdienste aufgelöst und alle Parteimitglieder ab einer bestimmten Führungsebene aus dem gesamten Staatsapparat entfernt. Ohne, dass auch nur irgendein Übergang geregelt gewesen wäre. Und das hat letztlich weitaus größere Verheerungen nach sich gezogen als der Krieg selbst. Bremer zerstörte mit seinen Dekreten den irakischen Staat letztlich tiefgreifender, als es der dreiwöchige Krieg zuvor getan hatte: Er schuf einen gigantischen Rekrutierungspool des Dschihads. Hunderttausende Sunniten waren über Nacht zu Staatsfeinden erklärt worden. Zehntausende bestens ausgebildete Offiziere und Geheimdienstler der insgesamt 250.000 Mann starken ehemaligen Armee gingen in den Widerstand. Sie wollten sich rächen, sie wollten wieder an die Macht kommen. Und aus diesen Leuten hat sich dann die Kerntruppe des IS rekrutiert.

Ihren Recherchen zufolge hat der Aufbau des IS über ein Jahrzehnt gedauert.

Der IS war in irakischen Städten, vor allem in Mossul, Tikrit und Ramadi, eine bis in die letzte Phase des Wirtschaftslebens reichende Schutzgeldmafia. Das gilt speziell im Fall von Mossul: Der IS hat die Millionenstadt über Jahre hinweg komplett beherrscht und ausgeplündert, er hat dort 20 bis 30 Millionen Dollar an Schutzgeldern verdient. Pro Monat! Der IS war wie ein mutationsfreudiger Virus. Er kontrollierte über Jahre hinweg den Untergrund, ohne offen aufzutreten, ohne Namensnennung. Und das kann er im Prinzip auch wieder tun. Die entscheidende Frage ist da nur eine andere …

Welche denn?

Die Frage, wie viele Mitglieder der Kernführung, die sich ja zum allergrößten Teil aus dem Personal der alten Geheimdienste, Armee- und Eliteeinheiten Saddam Husseins rekrutiert haben, noch leben. Denn die US-Amerikaner brachten mit ihren Bombardements von den Führern, die in Syrien aktiv waren, und die wir deswegen präziser verfolgen konnten, ungefähr 90 Prozent um. Also: Wie viele haben überlebt? Auf diese Frage hat derzeit niemand so wirklich eine Antwort.

Die Franzosen, heißt es, hätten bei der Rückeroberung Mossuls ihre ganz eigene Antwort gefunden.

Französische Spezialkräfte waren explizit in Mossul, um sicherzustellen, dass von IS-Kämpfern mit französischer Staatsbürgerschaft möglichst keiner mehr lebend zurückkommt. In Zusammenarbeit mit der irakischen Armee haben die Franzosen dort ganz gezielt Menschen liquidiert.

Und von welcher Dimension spricht man da?

Weiß keiner. Ein paar Dutzend. Vielleicht 100. Das weiß nur der französische Geheimdienst. Aber die französischen Spezialeinheiten waren mindestens ein halbes Jahr dort und das in auch nicht ganz geringer Mannstärke.

Vom vorläufigen Ende des Kalifats zu dessen Anfängen zurück: Sie sagen, dass der Westen den Fehler gemacht habe, den Islamischen Staat aus der Ferne zu beurteilen – und dass dies zur Täuschung und zur Unterschätzung geführt habe.

Wenn man sich die Propaganda des IS anschaut, speziell die für den Westen, dann hat man das Gefühl, dass es um eine Glaubenstruppe geht, um Glaubensinhalte und sehr stark um einen Kampf gegen den Westen. Wenn man sich aber anschaut, was der IS vor Ort in seinem Herrschaftsgebiet tatsächlich gemacht hat, wird klar, dass der Glaube nur ein Werkzeug war.

Ein Werkzeug?

Ja, ein Werkzeug nach außen, um die Spaltung der westlichen Gesellschaften in ihre muslimischen und nicht-muslimischen Bestandteile zu forcieren. Und ein Werkzeug nach innen, um sich Legitimation für seine Machtausübung zu geben. Denn letzten Endes, wie zuvor angesprochen, ging es dem Islamischen Staat einzig und allein um Macht, um Kontrolle und um Ausbeutung eines möglichst großen Gebietes. Und um das zu erreichen und dann auch zu sichern, hat der IS mit allen möglichen Gruppen paktiert, zuvorderst mit dem syrischen Assad-Regime.

Sie weisen wiederholt auf Assads Rolle hin.

Assad und sein Regime hatten ab 2003 begründete Panik, dass die Amerikaner nach dem raschen Sieg gegen Saddams Armee auch in Syrien einmarschieren werden. In den USA war breit debattiert worden, ob dem Regimewechsel in Bagdad nicht auch ein Regimewechsel in Damaskus folgen solle, nachdem im Irak alles so schnell, so gut funktioniert hatte. Dem syrischen Regime war klar, dass eine offene militärische Konfrontation mit den USA zwar aussichtslos war – man den Amerikanern im Irak mit verdeckten Operationen aber sehr wohl das Dasein zur Hölle machen und den dortigen Erfolg in einen Misserfolg verwandeln könne. Also hat der syrische Militärgeheimdienst ab 2003 damit begonnen, Dschihad-Kämpfer aus aller Welt über Syrien in den Irak zu schleusen. Und das im großen Stil.

Im großen Stil?

Syrien wurde zum Reisebüro des Dschihads. Bis 2009 lautete das Programm des Assad-Regimes: Schicke Dschihadisten durch Syrien in den Irak. Und ab 2011 lautete es dann: Lasst Dschihadisten auch in Syrien kämpfen. Um das, was als nicht religiöser Protest gegen Assads Diktatur begonnen hat, als einen rein dschihadistischen Aufstand diffamieren zu können – an dessen Bekämpfung ja auch der Westen ein Interesse haben müsse. Und das hat hervorragend funktioniert.

Soll heißen?

Der Islamische Staat hat Assad zwar offiziell als seinen Gegner deklariert und Assad seinerseits den IS, aber es war eine sehr lange Zeit eine sehr nützliche Feindschaft. Für beide Seiten. Denn der IS konnte sagen, er bekämpfe den Staat der Ungläubigen; während Assad gegenüber dem Westen behaupten konnte, er kämpfe gegen Terroristen, nicht gegen freiheitsliebende Rebellen. Er, Assad, sei also klar erkennbar das kleinere Übel. Der Westen hat all das sträflich ignoriert. Und hat deswegen den falschen Schluss gezogen, man müsse nur den IS besiegen und dann seien die Konflikte gelöst. Doch in Wahrheit sind die Konflikte, sowohl im Irak als auch in Syrien, nur wieder dort angekommen, wo sie 2014 waren. Gelöst ist also gar nichts. Auch wenn sich Regierungen der Autosugges­tion hingeben, dass sie es mit dem erfolgreichen Kampf gegen das Kalifat gelöst hätten.

Sehen Sie sich eigentlich selbst als einen Chronisten des Schreckens?

So können sie es nennen. Ich sehe mich ein wenig nüchterner eher als Forensiker der Gegenwart. Ich war jetzt 22-mal in Syrien, in Zeiten der Revolution und des Krieges. Und ich habe niemals zuvor einen Krieg mit einem vergleichbaren Ausmaß an Propaganda erlebt – an Propa­ganda vom IS selbst, aber auch aus Damaskus, Teheran und Moskau. Da wird jeder, der gegen Assad ist, als Terrorist stigmatisiert, während gleichzeitig komplett negiert wird, dass es sehr wohl zumindest phasenweise eine Kooperation zwischen Assads Kräften und dem IS gegeben hat und teilweise auch heute noch gibt. Ich recherchiere also, um die Wirklichkeit zumindest ein bisschen zu retten, um zu beschreiben, was an verschiedenen Orten in diesen Ländern tatsächlich geschieht. Das ist sehr mühsam, aber, so glaube ich zumindest, auch sehr wichtig.

Sie sagten eingangs, der IS habe Territorium, Einnahmequellen, Macht eingebüßt. Wird der IS auf diese Verluste mit mehr Terroranschlägen in Europa reagieren?

Um die Frage beantworten zu können, muss man ein bisschen weiter zurückgehen. 2014, als der IS noch dachte, er könne – ungehindert und ungestört vom Westen – immer weitere Gebiete erobern, gab es keine Terroranschläge. Im Unterschied zur al-Qaida, die stets die größtmöglichen Anschläge verüben wollte, waren Terroranschläge dem IS stets nur Mittel, nicht Selbstzweck. Raison d‘Être des IS war nicht, möglichst viele Menschen im Westen umzubringen, sondern in einem eigenen Staat, im Kalifat, zu herrschen. Man verfuhr deswegen nach der Devise: Je weniger wir die stören, desto weniger stören die uns. Der IS hat zwar die Feindschaft gegenüber dem Westen propagiert, aber sie praktisch nie angewandt. 2014, als der IS durch den halben Irak gerast ist wie ein heißes Messer durch Butter, als er etwa die Millionenstadt Mossul in nur fünf Tagen erobert und insgesamt ein Gebiet von fast der Größe Italiens mit sechs bis sieben Millionen Menschen beherrscht hat, da hätte er alle Möglichkeiten gehabt, eine gigantische Terrorwelle loszutreten. Er hätte die Ressourcen gehabt und die Anhänger und er hat es nicht getan. Die großen Anschläge gab es erst ab Ende 2015, erst ab dem Zeitpunkt, ab dem der Westen klarmachte: Jetzt bekämpfen wir den Islamischen Staat. In der Folgezeit haben die Anschläge zwar kaum nachgelassen, was ihre Anzahl betrifft. Sie sind in technisch-militärischer Hinsicht glücklicherweise aber sehr dürftig geworden, im Vergleich jedenfalls zu dem, was wir 2015 in Paris erlebt haben. Die Attentäter seither waren Einzeltäter, die sich nur noch vom IS berufen fühlen, aber keine organisatorische Verbindung mehr zum Islamischen Staat aufweisen. Diese Einzeltäter wird man nie stoppen können …

Sie rechnen also nicht mit einer Zunahme des vom IS organisierten und gesteuerten Terrors in Europa?

Man muss die Frage stellen, was das dem IS bringen würde. Denn im Rückblick lässt sich zwar sagen, dass in Europa die Spaltung der Gesellschaft größer geworden ist, respektive die Ressentiments gegenüber Muslimen insgesamt gestiegen sind; zu sehen auch an den Stimmenzuwächsen für die deutsche AfD und den französischen Front National Marine Le Pens. Andererseits aber hat die militärische Antwort, maßgeblich die der USA, auf den Terror den IS um sein Territorium gebracht. Denn ohne die dauernden Luftangriffe und die Drohnenattacken wäre der IS weder von der irakischen Armee noch von den Rebellen in Syrien oder von den Kurden beider Länder besiegt worden. Das waren schon die Amerikaner! Und der IS, respektive die Reste seiner Führung, werden sich nun genau überlegen, was sie tun können, um irgendwann abermals ein Gebiet beherrschen zu können – ohne dass es denen, pardon für den saloppen Ausdruck, wieder unter dem Arsch weggebombt wird. Und dafür sind Terroranschläge im Westen eher kontraproduktiv. Der IS verübte und verübt Terror nach Kalkül. Im Übrigen hat der IS, um auch nur in irgendeiner Form so weiter existieren zu können wie vorher, einfach ein ernstes Personalproblem.

Apropos. Berichten zufolge ist Al-Baghdadi, der Führer des Islamischen Staates, mittlerweile tot.

Al-Baghdadi, einer der ganz wenigen aus der Frühzeit des IS, der nicht aus dem alten Apparat Saddam Husseins kam, wurde bereits des Öfteren fälschlicherweise für tot erklärt. Vom IS selbst wie auch von den Russen. Es gibt aber keinen Grund zur Annahme, dass er tatsächlich tot ist. Wahrscheinlich lebt er, versteckt im Untergrund. Und keiner weiß, wo er ist. Aber Al-Baghdadi ist nur ein Symbol, er ist nicht das Hirn dieser Organisation.

Wer ist dann das Hirn?

Das ist die große Frage! Oder anders formuliert: Wieviel von diesem Hirn ist noch übrig? Wieviel ist nachgezogen worden? Die Führer, die den Islamischen Staat zum Funktionieren gebracht und die wir aus Syrien gekannt haben, die sind bis auf Al-Baghdadi jedenfalls alle tot. Nachgewiesen, bestätigt. Tot. Die einen wurden von Rebellen umgebracht, die anderen von den Amerikanern weggebombt.

Wie könnte ein Fazit lauten? Lässt sich in einem so komplexen Thema überhaupt ein Fazit ziehen?

Mit seiner Fähigkeit, zwischen militärisch-geheimdienstlichem Vorgehen und Propaganda zu trennen, hat es der Islamische Staat geschafft, zu suggerieren, es gäbe nur den IS als Hauptfeind zu bekämpfen. Das hat zwar funktioniert. Der IS ist besiegt. Das Kalifat ist am Ende. Man hat aber nur die Symptome bekämpft, nicht die Wurzeln. An den Umständen, die den Islamischen Staat im Irak und in Syrien erst haben groß werden lassen, hat sich nichts geändert. Im Gegenteil: Es ist eher schlimmer geworden.

Vielen Dank für das Gespräch!

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