Sabine Barbisch

Freizeit oder freie Zeit?

Juni 2017

Die Lebenserwartung ist in den vergangenen 90 Jahren von 60 auf 80 Jahre angestiegen, parallel dazu hat sich die Wochenarbeitszeit europaweit halbiert und der jährliche Urlaubsanspruch liegt für die meisten bei fünf Wochen – noch nie hatten wir also so viel Freizeit wie heute. Zeit zu beleuchten, wie diese gestaltet wird.

Rund 700.000 Stunden hat ein Mensch mit einer Lebenserwartung von 80 Jahren in seinem Leben zur Verfügung. 33 Prozent davon, also 233.000 Stunden, verbringen wir mit schlafen. Neun Prozent oder 63.000 Stunden bei der Arbeit. Rechnet man die Ausbildungszeit hinzu, erhöht sich dieser Anteil auf 14 Prozent oder 98.000 Stunden. So bleiben den Berufstätigen, also den 18- bis 65-Jährigen, 44 Prozent Freizeit. Auf die gesamte Lebenszeit umgelegt – mit Kindheit und Ruhestand – sind es 53 Prozent, die als Freizeit gelten. „Rund 90 Prozent dieser 369.000 Stunden wird aber für notwendige Tätigkeiten wie Essen, Körperpflege, Einkaufen oder soziale Verpflichtungen aufgewendet. Lediglich der Rest ist tatsächlich ‚freie Zeit’, die wir selbstbestimmt einteilen können“, erklärt Peter Zellmann, Leiter des Instituts für Freizeit- und Tourismusforschung mit Sitz in Wien.

Der Zweck und die Gestaltung der Freizeit ist geprägt vom gesellschaftlichen Wandel. Bekannt ist der Begriff Freizeit seit dem 16. Jahrhundert, als er sich im Zuge der Reformation entwickelte, weil die protestantische Ethik keinen Unterschied zwischen Privat- und Arbeitsleben machte und das Leben insgesamt als Dienst an Gott oder der Gemeinschaft gesehen wurde. Diametral dazu entstand in der Gesellschaft der Wunsch nach freier, privater Zeit. Lange herrschte das Verständnis von Freizeit als „Abwesenheit von Arbeit“ und in den Industriegesellschaften des 19. Jahrhunderts diente die Freizeit vor allem der Erholung von der schweren körperlichen Arbeit. In den 1950er-Jahren lag die durchschnittliche Wochenarbeitszeit bei 48 Stunden, und ganz im Sinne des Jahrzehnts der „Babyboomer“ stand die Familie im Mittelpunkt des Lebens und stellte damit auch die häufigste Freizeitbeschäftigung dar.

In den 1960er-Jahren fand mit dem Einzug des Fernsehens in die Haushalte eine große Zäsur in der Freizeitkultur statt. Weil das Angebot an sonstigen Freizeitaktivitäten noch nicht so groß war, zählten Theater- und Museumsbesuche aber trotzdem zu den zehn beliebtesten Freizeitbeschäftigungen. Die 1970er-Jahre werden gerne als das „Goldene Jahrzehnt“ der Freizeitkultur bezeichnet. Vor dem Hintergrund des Bevölkerungsanstiegs, der Zunahme des Wohlstandes und der Verringerung der Arbeitszeit sowie der Ausdehnung des gesetzlichen Urlaubsanspruchs entstand mit einem immer größeren Angebot an Freizeitaktivitäten ein neuer Wirtschaftszweig. Mit der Entstehung der privaten Fernsehsender und dem Paradigmenwechsel des Telefons vom reinen Informationsaustausch hin zu einem vollwertigen Kommunikationsmittel entwickelten sich auch die folgenden zwei Jahrzehnte in Sachen Freizeitgestaltung sehr dynamisch. Mit der Jahrtausendwende hielten Computer, das Internet und Smartphones Einzug in die heimischen Haushalte und prägen unser Freizeitverhalten bis heute sehr stark.

Die Frage lautet: Freizeit oder freie Zeit?

Peter Zellmann erklärt: „In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Freizeit als gleichwertiger Lebensbereich entstanden – und das unbemerkt von den politischen Rahmenbedingungen. Bis in die 1950er-Jahre war Freizeit eine Restkategorie des Industriezeitalters und diente der Erholung. Heute wenden wir nur 14 Prozent unserer Lebenszeit für Ausbildung und Beruf – inklusive der Wege von und zur Arbeit – auf.“ Ein weiteres Drittel werde verschlafen. Bei der Diskussion, dass 53 Prozent unserer Lebenszeit sogenannte Freizeit ist, werde aber immer übersehen, dass die wirklich freie Zeit, die wir selbstbestimmt einteilen können, viel rarer sei, gibt er zu Bedenken. Als Beispiel nennt der Leiter des Instituts für Freizeit- und Tourismusforschung eine alleinerziehende Mutter, die über die Hälfte ihrer Lebenszeit Freizeit hat und dennoch wenig freie Zeit. Deshalb ist Zellmann auch bemüht, etwas richtigzustellen: „Freizeit ist nicht gleichbedeutend mit Zeit für Spaß und Konsum!“ Für die meisten Österreicher bedeute ihre Freizeit, Zeit für ihre Familie, Freunde sowie für soziales und kulturelles Engagement aufzuwenden. Viel wirklich freie, also selbstbestimmte Zeit bleibe da nicht mehr.

Für welche Aktivitäten die österreichische Bevölkerung ihre Freizeit aufwendet, weiß Zellmann sehr genau: „Die Österreicher üben durchschnittlich fast 18 Freizeitaktivitäten regelmäßig aus. Die Entwicklung der vergangenen zwei Jahrzehnte zeigt mit einer Ausnahme im Jahr 1999 eine stetige Zunahme an regelmäßig ausgeübten Freizeitaktivitäten.“ Für sein Institut für Freizeit- und Tourismusforschung teilt er die 18 häufigsten Freizeitbeschäftigungen in sechs Aktivitätengruppen ein: Unangefochtene Nummer Eins ist dabei der passive Medienkonsum: „43 Prozent der regelmäßig ausgeübten Freizeitaktivitäten der Österreicher fallen in den Bereich der Mediennutzung. Dazu gehören Fernsehen, Radiohören, Zeitunglesen, Telefonieren, DVD schauen oder die Nutzung des Internets“, erklärt Zellmann. 19 Prozent der regelmäßig durchgeführten Freizeitbeschäftigungen sind aktiver Natur, das heißt, es handelt sich um Unternehmungen außer Haus oder aktive Beschäftigungen wie zum Beispiel Spazierengehen oder Wandern, Radfahren, Sport treiben, Essen gehen, Tagesausflüge, Wochenendausfahren oder Einkaufsbummel.

An dritter Stelle der regelmäßigen Tätigkeiten in der Freizeit liegt mit 14 Prozent die Rekreation und findet im häuslichen Bereich statt; in diese Kategorie fallen Ausschlafen, Nichtstun, sich in Ruhe pflegen oder über wichtige Dinge reden. Gleich dahinter liegen mit 13 Prozent aktive Tätigkeiten im Haus, etwa die Beschäftigung mit der Familie, Gartenarbeit, mit den Kindern spielen oder die Ausübung eines Hobbys. Bei neun Prozent der regelmäßig ausgeübten Freizeitbeschäftigungen geht es um die Pflege der sozialen Kontakte, indem etwa ein Lokal besucht oder mit Freunden etwas unternommen wird, man jemanden einlädt oder eingeladen wird. Damit bleiben drei Prozent, die für kulturelle Angebote zur persönlichen Weiterbildung, einen Kinobesuch, Konzerte, einen Opern- oder Museumsbesuch genutzt werden. Egal, welche Altersgruppen oder welches Bildungsniveau, wie hoch das Einkommen, welches Geschlecht, oder wie der Familienstand aussieht – Fernsehen ist in den vergangenen zwanzig Jahren immer auf dem ersten Platz der häufigsten Freizeitbeschäftigungen der Österreicher. Zweifellos haben aber auch die neuen Medien und damit die Internet- und Computernutzung einen sehr großen Einfluss auf unser Freizeitverhalten: Alleine in den vergangenen fünf Jahren hat sich die Zahl der Nutzer um 40 Prozent gesteigert.

„Zu wenig Zeit für sich“

Anja Kirig, Zukunfts- und Trendforscherin, erklärt im Interview mit „Thema Vorarlberg“, dass gerade der Wandel unserer Arbeitskultur starke Auswirkungen auf die Freizeitkultur hat: „Der Megatrend der neuen Arbeitskultur verändert den Begriff von Freizeit komplett. Durch neue Arbeitsbedingungen sowie einem Wertewandel, dem Wunsch nach Sinn und Lebensqualität, wird nicht nur Arbeit neu definiert, sondern in diesem Kontext auch Freizeit. Die Sphären lassen sich längst nicht mehr voneinander trennen.“ Das sieht auch Peter Zellmann so: „Vieles in der Arbeitswelt wird aus der Freizeit übernommen – das betrifft etwa Erfahrungen, Erkenntnisse, aber auch Weiterbildungen. Dadurch dass viele Menschen von Zuhause aus arbeiten, wird die Arbeit freizeitähnlich und umgekehrt.“ Dem entspricht auch der Zeitgeist der Start-Ups, ergänzt Kirig: „Manche machen sich gleich mit einem Start-Up selbstständig, in dem ihre Leidenschaft integriert ist – und somit auch das, was sie in der Freizeit bewegt.“

Insgesamt, sagt Peter Zellmann, gehe es den Österreichern nicht darum, mehr Freizeit zu haben: „Die freie, selbstbestimmte Zeit nur für sich – diese Zeit ist den Menschen zu wenig.“ Es sei ein Paradoxon, dass über Arbeitszeitverkürzungen diskutiert werde, denn das sei nicht das Thema. Vielmehr sei es nicht gelungen, die sogenannte Freizeit mit möglichst viel freier Zeit für sich selbst auszustatten. „Wir haben in den vergangenen 90 Jahren ein Drittel mehr Lebenszeit gewonnen und die Arbeitszeit halbiert, die Freizeit wurde immer mehr, die freie Zeit ist aber weniger geworden.“

Aus seiner langjährigen Forschungstätigkeit weiß er, dass sich die Österreicher mehr Zeit für sich selbst wünschen und sich nach Harmonie, Ausgleich, Familie und Geborgenheit sehnen. „Die Menschen machen viele Dinge, aber nicht das, was sie eigentlich wollen. Das fängt schon damit an, dass in der öffentlichen Debatte nicht zwischen Freizeit und freier Zeit unterschieden wird.“ Er sieht hier die Politik in der Pflicht: „14 Prozent unserer Lebenszeit wenden wir für Ausbildung und Beruf auf, diese Themen dominieren aber 80 Prozent der politischen Diskussionen. Die Menschen sollten bei ihren eigentlichen Bedürfnissen abgeholt werden.“

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