Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Ist „die Krise“ überwunden?

Februar 2018

Das neue Jahr begann vielversprechend. Nicht nur, was die wirtschaftlichen Perspektiven für die kommenden Monate, sondern eben „viel-versprechend“, was etliche Vorhaben im breit angelegten Regierungsprogramm anlangt. Untertitel im gerade erschienenen Konjunkturbericht des sonst eher zurückhaltend formulierenden WIFO: „Weiterhin äußerst positive Konjunkturaussichten“ (12/17, S. 891). Das „äußerst“ muss dem Chef wohl durchgerutscht sein, „positive Konjunkturaussichten“ hätten auch genügt. Immerhin, das klingt anders als in den letzten zehn Jahren.

Ist „die Krise“ überwunden? Können wir zur normalen Tagesordnung übergehen? Steuern wir in ruhigere Gewässer? Ich bitte um Ihr Verständnis, wenn der Autor skeptisch bleibt. Das ist nicht Raunzerei, sondern seine berufliche Erfahrung. Gute Konjunktur mindert in Österreich regelmäßig den Elan, speziell für längerfristig orientierte Reformen. Es sollte überraschen, wenn das bei Türkis-Blau anders wäre. Wenn also ein erheblicher Beitrag zur Gegenfinanzierung der angekündigten Steuersenkung von der guten Konjunktur erwartet wird und jedenfalls bei Weitem nicht allein von Einsparungen des Staatsaufwands, dann ist die entscheidende Frage: Verbessern die mehr als gerechtfertigten Erleichterungen für Steuern auf Arbeits- und Unternehmereinkommen auf Dauer notwendige Leistungsanreize? Allenfalls auch durch argumentierbare Familienleistungen? Solche positiven Effekte sind denkbar, aber empirisch kaum nachzuweisen. Alternativ hätten konjunkturelle Mehreinnahmen des Staates allerdings auch für die Senkung der Staatsschulden oder für die energischere Bekämpfung der Schwachstellen im Bildungssystem oder in der Klimapolitik verwendet werden können.

Dass sich die bildungspolitischen Bemühungen der letzten Jahre in nicht viel mehr als organisatorisch-institutionellen Experimenten und im Übrigen in althergebrachten Bildungsideologien erschöpften, liegt ja nicht zuletzt daran, dass Maßnahmen, die das System wirklich zukunftsfähig machen würden, ziemlich viel Geld kosten würden.
Gewiss: Die Integration von Kindern mit fremder Muttersprache oder aus bildungsfernen Schichten ist ein aktuelles und dringendes Anliegen. Und sicher können die Programme verschiedener Schulen oder die Infrastruktur des Lehrbetriebs besser aufeinander abgestimmt werden.

Gleichzeitig muss aber unsere Jugend auf die tiefgreifend veränderte Welt von heute und morgen besser vorbereitet werden. Dem Philosophen Konrad Paul Liessmann ist Recht zu geben, wenn er die verstärkte Orientierung des Unterrichts an der „Kompetenz“ für unmittelbar – wirtschaftlich – nutzbare Inhalte immer wieder kritisiert.1) Natürlich ist Inkompetenz kein Vorteil, aber in der Welt von heute und morgen geht es nicht um das Bereithalten eines klassischen oder eines aktuelleren Bildungskatalogs, sondern um selbstständig denken und verstehen lernen. Es geht um Verständnis für die oft globalen Zusammenhänge von Politik und Gesellschaft, Natur und Wirtschaft. Dazu gibt es oft keine eindeutigen Antworten. Entscheidend ist, Probleme, neue Möglichkeiten und neue Risiken zu erkennen, zu begreifen und bessere Lösungen zu finden.

Die verbesserte Wirtschaftslage ist alles andere als ein Beleg, dass die Einflüsse auf die krisenhafte Situation der letzten Jahre überwunden sind. Einige Hinterlassenschaften werden uns bald zu schaffen machen: die hohe Langzeitarbeitslosigkeit, die extreme Zinssituation, die Verunsicherung über den Eurokurs, ungenügende Konzepte gegen den Klimawandel. Der Umstand, dass in den Vereinigten Staaten seit zwei Jahren die durchschnittliche Lebenserwartung nicht mehr steigt, erspart uns die demografischen Probleme der Finanzierung des Ruhestands in den kommenden Jahren nicht automatisch: Wir wollen sie ja nicht durch „Sich tot essen mithilfe von Burgern und Chips“ lösen.

Den bevorstehenden Landtagswahlen in einigen Bundesländern ist es wahrscheinlich zuzuschreiben, dass die bisher öffentlich erläuterten Vorhaben der neuen Bundesregierung noch kaum etwas über strategische Konzepte verraten. Das Autobahntempo um zehn Stundenkilometer hinaufzusetzen, das Rauchverbot und der österreichische Pass für Südtiroler wirken ein wenig wie aus der Hüfte geschossen unüberlegt. Es geht dabei zwar nicht um entscheidende Antworten auf anstehende Fragen. Doch, ohne diese Ankündigungen auf die Goldwaage legen zu wollen, berühren sie immerhin zentrale Anliegen: Umweltschutz, Gesundheit und Europa.

Schon im Wahlkampf wurden die Beziehungen Österreichs zur EU und den europäischen Partnern weitgehend ausgeklammert. Auch das Regierungsprogramm konzentriert sich auf die ein wenig pflichtschuldig wirkenden Erklärungen zur Bedeutung der EU für Österreich, und dass man sich dafür aktiv einsetzen werde. Andeutungen über die Weiterentwicklung der EU fehlen, die Hinweise auf das Subsidiaritätsprinzip und über einen parallelen EU-Konvent in Österreich sind wohl eher defensiv zu verstehen. Keine Bemerkungen fallen über die Stabilisierung der Währungsunion ab, und schon gar keine zugunsten der unverzichtbaren Verpflichtung zu europäischer Solidarität aller Mitglieder, auch solcher in unmittelbarer Nachbarschaft in Ostmitteleuropa. Eher verzichten könnte man darauf, gegen die Regierungen der beiden wichtigsten Nachbarländer Deutschland und Italien ständig zu sticheln. Der Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher erteilte in Wien der wirklich unausgegorenen Idee der doppelten Staatsbürgerschaft die lapidare Antwort, er würde die Einführung einer europäischen Staatsbürgerschaft vorziehen.

Österreich bekommt im zweiten Halbjahr die Möglichkeit, sich im Halbjahresvorsitz europapolitisch auszuzeichnen. Da allerdings gleichzeitig das 100-jährige Jubiläum der Republik zu feiern sein wird, sollte dabei weniger betont werden, wie herrlich weit es diese seither gebracht hat. Verdienstvoll wäre es, ausgereifte Gedanken zu entwickeln, wie sich beide, die Union und in ihr die Republik, am besten in den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft bewähren könnten.

1) Zuletzt in K. P. Liessmann: „Bildung als Provokation“, Wien, 2017.

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