Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Herbert Motter

Neue Wege braucht das Land

Oktober 2016

Der ständig zunehmende motorisierte Individualverkehr schafft Probleme, dabei ließen
sich mit Bus, Bahn und Rad, guten Willen vorausgesetzt, viele Wege ersetzen. Die Wirtschaft aber hat kaum Alternativen zur Straße:
Das Bahnangebot ist unverändert dürftig, Richtung Deutschland gar ein Fiasko. Was fehlt, ist ein Gesamtplan. Und wohl auch die Einsicht, dass sich am Mobilitäts­verhalten der Menschen so schnell nichts ändern wird.

Mobilität wäre, in einer eingeschränkten Sichtweise, eigentlich nicht viel mehr als die Bewegung eines Menschen von einem Punkt zum anderen. Doch Mobilität ist viel mehr als nur das nüchterne Abwägen einzelner Verkehrsträger. Mobilität ist Emotion, ist individuelle Freiheit – und eine Freiheit, die vom Gros der Menschen über das eigene Auto definiert wird, nach wie vor, trotz bemerkenswerter Zuwachsraten bei Bus, Bahn und im Radverkehr. „Kernstück der individuellen Mobilität“, sagt Mobilitätsforscher Ulrich Wagner, „bleibt das Auto.“

Der erste Automobilist

Drehen wir das Rad der Geschichte ein wenig zurück, im wahrsten Sinn des Wortes. Mit Eugen Zardetti beginnt die Geschichte des motorisierten Individualverkehrs in Vorarlberg – der in Bregenz wohnhafte Schweizer fährt 1893 das erste industriell gefertigte Auto und damit das erste seiner Art in ganz Österreich, einen dreirädrigen Benz mit der Fabrikationsnummer 24. Drei Jahre lang, bis 1896, bleibt Zardetti der einzige Autobesitzer in Vorarlberg. Fahrer und Vehikel werden misstrauisch beäugt. 1905 sind in Vorarlberg elf Automobile gemeldet, knapp vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird im Landtag bereits ein „Gesetz betreffend die Einführung einer Abgabe von Kraftfahrzeugen“ diskutiert, eine Reichensteuer für Automobilisten. Das Gesetz wird beschlossen; die kaiserliche Sanktion bleibt zwar aus, doch die Geschichte nimmt ihren Lauf. Rasant. 1949 erhebt die Landesstatistik zum ersten Mal systematisch den Kraftfahrzeugbestand im Land Vorarlberg, zählt 1803 Autos. Drei Jahrzehnte später, 1980, sind in Vorarlberg 83.552 Personenkraftwagen regis­triert, 2015 sind bereits 202.058 erfasst. 202.058 Autos – bei einer Einwohnerzahl von 384.000 und ohne „auswärtige“ Verkehrsteilnehmer.

Ein bedeutsamer Unterschied

Im schwarz-grünen Regierungsprogramm ist das Kapitel Mobilität eines der ausführlichen. Einleitend findet sich ein Bekenntnis: „Die Lebens- und Standortqualität einer Region hängt wesentlich auch von ihrer Erreichbarkeit ab. Die Mobilitätsbedürfnisse der Bevölkerung und der Wirtschaft zu berücksichtigen und diese in Einklang mit dem Schutz des Lebensumfelds zu bringen, ist daher eine wichtige Aufgabe der Vorarlberger Landesregierung.“ Im Regierungsprogramm wird also, zumindest indirekt, zwischen dem Mobilitätsbedürfnis der Bevölkerung und dem der Wirtschaft unterschieden – ein entscheidender Punkt. Denn die Bedürfnisse sind höchst unterschiedlich, und in einer sachlichen Mobilitätsdiskussion ist eine Differenzierung zwischen dem, was die Menschen wollen, und dem, was die Wirtschaft benötigt, unerlässlich.

Beleuchten wir den Individualverkehr etwas ausführlicher. Gemäß den neuesten Erhebungen sind neun von zehn Vorarlbergern werktags mobil – sie bewältigen durchschnittlich rund 36 Kilometer. Mobilitätsmittel Nummer eins ist dabei, selbstredend, das eigene Auto. Es dient als Fortbewegungsmittel für knapp die Hälfte aller zurückgelegten Wege. Ein Viertel aller werktags mit dem Auto zurückgelegten Wege sind kürzer als 2,5 Kilometer, 43 Prozent kürzer als fünf Kilometer. Nur ein knappes Drittel aller täglich zurückgelegten Wege führen zum Arbeitsplatz und zurück, knapp zehn Prozent dienen dienstlichen oder geschäftlichen Erledigungen, 14 Prozent der Ausbildung. Der Rest der Wege dient Freizeit, Einkauf oder sonstigen privaten Erledigungen. Und: In der Regel sitzt der Fahrer allein im Fahrzeug, nur jeder Fünfte hat einen Mitfahrer.

Wie entscheiden wir eigentlich, mit welchem Verkehrsmittel wir zur Arbeit gelangen? Konrad Götz, ein deutscher Mobilitätsforscher, sagt: „Wir entscheiden das meistens gar nicht bewusst, sondern haben es automatisiert. Deshalb ist es schwierig, das Verkehrsverhalten zu ändern, weil diese Alltagsroutinen aufgebrochen werden müssen.“ Diese Alltagsroutinen zeigen sich, nur um ein Beispiel zu nennen, an der Bärenkreuzung in Feldkirch. An Spitzentagen werden dort bis zu 40.000 Autos gezählt, die gemessenen Schadstoffwerte sind selbst im österreichweiten Vergleich ungewöhnlich hoch. Doch der Verkehr an dieser Stelle ist großteils hausgemacht, sagen Experten. Deren Erkenntnis deckt sich mit den zuvor genannten Daten. Plakativ formuliert: Viele Autofahrer hätten Alternativen. Es müsste längst nicht jeder, der mit dem eigenen Auto unterwegs ist, tatsächlich mit dem eigenen Auto unterwegs sein. Aber eben: Emotion. Freiheit. Alltagsroutinen.

Ein bemerkenswertes Projekt

Die Politik setzt an diesem Punkt an. Auch die Wirtschaft. Sieben große Unternehmen haben sich zum Netzwerk „Wirtschaft mobil“ zusammengeschlossen, mit dem Ziel, ihren insgesamt mehr als 10.000 Arbeitnehmern alternative Mobilitätsangebote schmackhaft zu machen – und damit letztlich für jeden Mobilitätszweck die optimale Verkehrslösung zu finden. Die Vorteile liegen auf der Hand: Ein solches Engagement führt zu einer Verkehrsentlastung rund um die beteiligten Unternehmen. Allfällige Parkplatzprobleme werden entschärft. Die Unternehmen leisten einen Beitrag zum Klimaschutz, die Mitarbeiter wiederum sparen sich Stress und Ärger bei der Anfahrt, sind fitter und ausgeglichener, Kunden wiederum honorieren das sichtbare Engagement der Unternehmen für Mensch und Umwelt. Ein Beispiel: Laut Analysen wohnen zwei von drei Mitarbeitern in Fahrraddistanz zu ihrer Arbeitsstätte. Ausgehend von der Überlegung, wonach mit einem E-Bike sogar Strecken bis 15 Kilometer gut bewältigt werden können, steht demnach für fast 80 Prozent der Mitarbeiter eine kostengünstige, gesunde und umweltfreundliche Alternative zum Auto zur Verfügung. Es ist wohl nicht zu pathetisch, wenn man sagt: „Wirtschaft mobil“ ist ein tolles Projekt. Das hoffentlich seine Nachahmer findet.

Die Bedürfnisse der Wirtschaft

Und doch hat die Wirtschaft ihre speziellen Mobilitätsbedürfnisse. Unser Bundesland ist eine der wirtschaftlich dynamischsten Regionen Österreichs und des gesamten Bodenseeraums. 2015 stieg das Exportvolumen der Vorarlberger Wirtschaft auf den neuen Rekordwert von 9,5 Milliarden Euro, ein Plus von 7,2 Prozent gegenüber 2014, wobei Deutschland, die Schweiz und Italien die wichtigsten Zielländer der exportierenden hiesigen Wirtschaft sind. Für den Standort Vorarlberg, für das gesamte Land, ist diese hohe Exportquote von entscheidender Bedeutung – Schätzungen zufolge hängt jeder zweite Arbeitsplatz in Vorarlberg direkt oder indirekt vom Export ab. Um sich in der Konkurrenz zu anderen Regionen aber überhaupt erfolgreich behaupten und expansiv entwickeln zu können, sind heimische Unternehmen in den unterschiedlichsten Branchen auf eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur angewiesen. Und eine Entkoppelung von Wirtschafts- und Verkehrswachstum ist nur in den wenigsten Branchen denkbar. Moderne Fertigungsmethoden („just in time“) sowie die internationale Arbeitsteilung erfordern zeitlich präzise, berechenbare Lieferungen. Staus, stockende Abfertigungen an der Grenze und überlange Transportzeiten führen zu Produktionsverzögerungen, im schlimmsten Fall gar zu Produktionsausfällen, wirken kostentreibend und damit wachstumshemmend. Die Wirtschaft braucht ergo eine leistungsfähige Infrastruktur, braucht Straße und Schiene gleichermaßen. Engpässe schwächen den Standort.

Zwei zentrale Schwachstellen

Und diese Engpässe gibt es, gar zwei zentrale Schwachstellen. Die erste gewichtige Schwachstelle betrifft die Straße, respektive die Tatsache, dass nach wie vor eine höherrangige Straßenverbindung zwischen der österreichischen und der Schweizer Autobahn fehlt. Wirtschaftslandesrat Karlheinz Rüdisser spricht von einem „echten Manko“ und davon, dass das Projekt mit aller Vehemenz forciert werden müsse. Auch Mobilitätslandesrat Johannes Rauch sagt, es sei „unbestritten, dass es eine Verbindung der beiden Autobahnen braucht, weil sonst alles über Lustenau fährt.“ Die zweite Schwachstelle betrifft die Bahn, besser gesagt: die Deutsche Bahn. Deutschland ist Vorarlbergs gewichtigster Handelspartner, im Vorjahr hat die Vorarlberger Wirtschaft Waren im Wert von 2,64 Milliarden Euro nach Deutschland exportiert. Gerne würde die hiesige Wirtschaft mehr Güter auf die Bahn bringen. Doch die Strecke zwischen Lindau und Ulm ist nicht elektrifiziert und auch noch größtenteils eingleisig. Rüdisser kritisiert: „Es gibt im angrenzenden deutschen Gebiet keine Eisenbahninfrastruktur, wie man sie sich im 21. Jahrhundert vorstellen würde. Eine Anpassung an moderne Standards wäre dringend erforderlich.“ In einer Idealvorstellung würden die Verbindungen in Richtung Ulm, Stuttgart, München besser; würde die hiesige Wirtschaft per Bahn an die deutschen Verteilzentren im Gütertransport bis hin zum Hafen Hamburg angeschlossen. „Doch dazu brauchen wir die deutschen Partner“, sagt Rüdisser. In Vorarlberg selbst kommt dem bereits begonnenen Ausbau des Güterbahnhofs Wolfurt zentrale Bedeutung zu. Im innerösterreichischen Verkehr wurde bisher schon die Hälfte aller Transporte auf der Schiene abgewickelt. Doch wird die ÖBB gefordert sein, ihre Preispolitik zu hinterfragen; die bisherigen Tarife gelten als nur bedingt wettbewerbsfähig.

Dichtestes Angebot in Österreich

Im Individualverkehr werden Bus und Bahn in beachtlichem Ausmaß benutzt. Im heute dichtesten ÖPNV-Angebot Österreichs (!) haben die Bahnen im Vorjahr 4,6 Millionen Linienkilometer zurückgelegt, die Busse gar 18,9 Millionen. Fast 64.000 Menschen haben 2015 eine Maximo-Jahreskarte des Verkehrsverbunds Vorarlberg gekauft. Und welch – theoretisches – Potenzial Bus und Bahn noch hätten, zeigen Daten aus der „Mobilitätserhebung Vorarlberg“: Demnach könnten 98 Prozent aller Vorarlberger nach eigenen Angaben zu Fuß eine Bushaltestelle erreichen, in größeren Gemeinden im Rheintal sogar in durchschnittlich nur etwas über vier Minuten. Apropos: Vorarlberg verzeichnet das höchste Bevölkerungswachstum aller Bundesländer, ausgenommen Wien. Mit 240.000 Einwohnern konzentrieren sich zwei Drittel der Vorarlberger Bevölkerung auf das Rheintal. Das Gebiet hat sich seit den 1960er-Jahren von einst abgegrenzten dörflichen Strukturen zu einem beinahe durchgehend geschlossenen Siedlungsband entwickelt und zählt heute zu den am dichtesten besiedelten Gebieten in Europa. Wirtschaft, Städte und Gemeinden haben sich massiv gewandelt – und auch das Mobilitätsverhalten von Bevölkerung und Wirtschaft.

Doch die Straßeninfrastruktur wurde nie entsprechend angepasst. An Dornbirn ist das exemplarisch zu sehen: Vorarlbergs größte Stadt wuchs seit 1960 um 20.000 Einwohner auf nunmehr 48.000, ist heute ein Ballungsraum im Ballungsraum. Doch erreichbar ist die Messestadt seit Jahrzehnten mit im Wesentlichen derselben Infrastruktur. Dem rapiden wirtschaftlichen, demografischen und mobilitätsbedingten Zuwachs Dornbirns wurde in Sachen Infrastruktur nicht die notwendige Rechnung getragen; Schnittstellen wurden punktuell adaptiert, allerdings nie im notwendigen Ausmaß weiterentwickelt. Wer sich der Stadt zu Stoßzeiten nähert, weiß ein Lied davon zu singen.

Die Politik hat die Probleme erkannt. Das Betriebsgebiet Dornbirn-Wallenmahd soll an die Autobahn angebunden werden, auch um Messekreuzung und Stadtgebiet Dornbirn wesentlich zu entlasten; auch soll der Bereich Güterbahnhof Wolfurt durch einen Vollanschluss besser an die Autobahn angebunden werden – wichtig, damit der Verkehr Richtung Oberland nicht länger über den Knoten Dornbirn abgewickelt werden muss. Auch andernorts wird reagiert: Die Südumfahrung Feldkirch zur Entlastung der Bärenkreuzung, bis zur Umsetzung freilich ein längerfristiges Projekt, nimmt Gestalt an. Diese Projekte werden nach Realisierung wichtige Entlastungsfunktionen haben. Marco Tittler, Leiter der Wirtschaftspolitik in der Wirtschaftskammer Vorarlberg, sagt jedenfalls, dass sich die Politik nicht auf die Position zurückziehen dürfe, allein das Mobilitätsverhalten der Menschen verändern zu wollen: „Das hieße, die Realitäten zu ignorieren. Denn Mobilität, in welcher Form auch immer, wird eine leistungsfähige Infrastruktur brauchen.“

Doch welches Fazit ziehen die beiden Landesräte? Laut Wirtschaftslandesrat Rüdisser wird „das Mobilitätsbedürfnis der Menschen eher zunehmen als abnehmen“. Mobilitätslandesrat Rauch sagt dagegen, dass ein Kulturwandel im Gange sei: „Je mehr das Rheintal zur Stadt wird, desto städtischer wird auch der Verkehr werden. Das ist eine Tendenz, die in allen Ballungsräumen Europas zu beobachten ist.“ Rauchs eigene Devise lautet übrigens: „Wann immer es geht, mit dem öffentlichen Verkehr, wenn nicht anders möglich, mit dem Auto.“

Und wer ist mit dem Auto da?

Doch wie sagt Mobilitätsforscher Götz? Es sei schwierig, Alltagsroutinen aufzubrechen. Vor Jahren, vor einer Landtagswahl, fand im Lauteracher Hofsteigsaal eine Diskussion über mögliche Nachfolgevarianten für die S 18 statt. Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt, Politiker, Experten und Bürger diskutierten mit Verve, kritisierten sich, forderten Lösungen, beklagten den zunehmenden Verkehr. Bis sich dann gegen Ende der Veranstaltung ein alter Mann zu Wort meldete. „Es ist viel gesprochen worden“, sagte er, „ich habe nur eine Frage: Wer von den Damen und Herren im Saal ist denn heute mit dem Auto da?“ Da wurde es still im Hofsteigsaal. Schlagartig. „Bei den Jungen und bei den Älteren“, sagt übrigens Mobilitätsforscher Götz, „bröckelt die Autofixierung.“ Na dann.

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