Gerold Strehle

geboren 1974 in Linz, Architekt, Gründer des Büros für Architektur und Umweltgestaltung in Bregenz und Wien

© Foto: Angela Lamprecht

Stadtbewohner? Dorfbewohner?

Juli 2017

Wie charakterisieren Sie aus Ihrer persönlichen Sicht Ihr Lebensumfeld – städtisch oder dörflich?

Bevor Sie diese Frage für sich beantworten, wechseln wir zuvor einmal von einer subjektiven Betrachtung zum objektiven Vergleich zweier existierender Ballungsräume:
Beide Regionen zählen zu Jahresbeginn 203.000 beziehungsweise 194.500 Einwohner1) und liegen topografisch betrachtet in Beckenlagen am Alpennordrand. In beiden Ballungsräumen war und ist die Anbindung an eine Wasserstraße von großer Bedeutung. Davon zeugen zahlreiche Hafenanlagen an beiden Standorten, die sich hinsichtlich ihrer Nutzung jedoch in unterschiedliche Richtungen entwickelten: In der einen Vergleichsregion bildet der Hafen nach wie vor einen integrativen Bestandteil des Industrie- und Gewerbeparks, in der anderen Region verwandelten sich die Hafenbereiche zu Freizeit- und Erholungsräumen.

Unsere Vergleichsgebiete liegen beide entlang der zentralen Achse des landesweiten Schienennetzes und werden in Nord-Süd-Richtung von einer Autobahn2) durchquert. Beide Regionen verfügen über insgesamt zehn Autobahnanschlussstellen; 54 Buslinien durchqueren den einen, 38 Buslinien und drei Straßenbahnlinien den anderen Ballungsraum.
In beiden Regionen wird der zentrale Flusslauf für den Individualverkehr mit Brücken überquert – in der einen sechsmal, in der anderen viermal, wobei sich bereits eine zusätzliche Überquerung in Planung befindet. Im Vergleich der maximalen Verkehrsfrequenzen der inneren Autobahnabschnitte stehen 43.100 Kraftfahrzeuge in 24 Stunden 50.750 Kfz in 24 Stunden gegenüber. In beiden Ballungsräumen sind aktuell großmaßstäbliche Verkehrsprojekte in Planung3) beziehungsweise in der Bewilligungsphase, um Überlastungsproblematiken entgegenzuwirken.

In unmittelbarer Umgebung befindet sich je ein Flughafen, eine der beiden Regionen kann sogar mit zwei Flughäfen4) in 30-minütiger Entfernung aufwarten. Beide Ballungsräume sind wirtschaftlich betrachtet überproportional erfolgreich mit internationalen Spitzenbetrieben in den Branchen der Metallproduktion und -verarbeitung sowie neuen Technologien und Dienstleistungen.
Auch in kultureller Hinsicht kennt man die jeweiligen Freiluftveranstaltungen5) weit über die Landesgrenzen hinaus. Eine der beiden Städte wurde 2009 als europäische Kulturhauptstadt gewürdigt, die andere bewirbt sich gerade darum. In beiden Städten wurden in den vergangenen zehn Jahren Kultureinrichtungen wie beispielsweise Landesmuseen6) errichtet oder erweitert, das Tourismus- und Kongressangebot ausgebaut und vertieft.

Beide Standorte verfügen über Universitäten, gegründet 1966 beziehungsweise im Jahr 1989.

In beiden Städten werden alljährlich Leichtathletik-Meetings7) mit internationaler Beteiligung der besten Sportler der Welt durchgeführt, beide Städte entsenden aktuell mindestens ein Team in die Herrenhandballbundesliga8). Im Fußball9) und Eishockey10) sind ebenfalls Traditionsvereine beider Städte in den höchsten österreichischen Spielklassen vertreten.
Kehren wir nun zur eingangs gestellten Frage zurück und lassen wir eine beliebige Einwohnerin der Vergleichsstadt „A“ und eine Einwohnerin der Vergleichsstadt „B“ auf die Frage antworten, wie ihr Lebensumfeld wahrgenommen wird: Während in der Stadt „A“ die eindeutige Antwort „städtisch!“ lautet, ist dies in der Vergleichsstadt „B“ lediglich die Hälfte11), die ihr Umfeld als städtisch empfindet.

Wie kann es trotz der zahlreichen genannten Gemeinsamkeiten beider verglichenen Regionen – der geschätzte Leser hat mittlerweile das Unterland des Vorarlberger Rheintals und Linz, die Landeshauptstadt Oberösterreichs, identifizieren können – zu derart unterschiedlichen Wahrnehmungen kommen?

Oder anders gefragt: Wenn die deutschen Städte Saarbrücken oder Hagen – beides Regionen mit ähnlicher Bevölkerungsanzahl und Flächenausdehnung wie das untere Rheintal – als Stadt wahrgenommen und erlebt werden, warum dann nicht auch das Unterland?

Nun, zum einen liegt die Antwort darin, dass sich das Rheintal verwaltungstechnisch aus mehreren Gebietskörperschaften (Dörfern, Marktgemeinden, Städten) zusammensetzt – jeder Dorfbewohner unterscheidet sich daher alleine aus diesem Grund vom Stadtbewohner.

Die „Verstädterung“ des unteren Rheintals, sprich die Verschmelzung einzelner eigenständiger Dörfer zu einer flächendeckenden und zusammenhängenden Siedlungsstruktur, ist – im Gegensatz zu unseren Vergleichsbeispielen Saarbrücken, Hagen oder Linz – noch ein sehr junges Phänomen der letzten 30 Jahre. Wenn wir die historische Entwicklung von Linz mit dem aktuellen Stadium des Flächen- und Bevölkerungswachstums im Rheintal vergleichen, dann setzte dieser Prozess im oberösterreichischen Ballungsraum viel früher ein: Genauer gesagt in den Jahrzehnten rund um 1900. Diesem Umstand wurde in der Eingemeindung der zusammenwachsenden Linzer Vorstädte im Jahre 1923 Rechnung getragen.

Inwiefern die verwaltungstechnische Unterteilung der Gebietskörperschaften, aber auch die subjektive Lebensrealität zu Beginn des 21. Jahrhunderts abbildet, sei dahingestellt: Die Wohn- und Arbeitsplätze liegen nicht mehr innerhalb der eigenen Gemeinde, die familiären Netzwerke erstrecken sich oftmals schon über mehrere Bezirke, wenn nicht sogar über Bundesländer hinweg. Die Kinderbetreuung und die Altenpflege werden gemeindeübergreifend organisiert, Gewerbe- und Betriebsansiedlungen „interkommunal“ entwickelt. Die schulischen Ausbildungsstätten werden zukünftig in gemeinsam abgestimmten „Clustern“ über die Gemeindegrenzen hinweg organisiert ... Vernetzungsbeispiele dieser Art könnten beliebig fortgesetzt werden.

Was ich eben versucht habe darzustellen, ist der Umstand, dass in unserem Alltag und Gebrauch von städtischen Räumen zahlreiche verschränkte und in sich überlagernde Nutzungs-, Verwaltungs- und Gestaltungssysteme zum Vorschein kommen. Je nachdem, ob diese Systeme unseren Alltag in positiver Art und Weise bereichern und unterstützen oder in negativer Hinsicht uns einschränken und behindern, führt dieser Umstand letzten Endes dazu, wie wir unsere gebaute Umwelt beurteilen werden.

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