Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Steuern, Staatsschuld und Hausverstand

September 2017

Die Steuern sind zu hoch. Knapp die Hälfte des Sozialprodukts verlangt der Fiskus in Österreich – einschließlich Sozialabgaben – für seine Zwecke. Deutlich mehr als im Durchschnitt der EU oder gar der Schweiz. Die Steuerbelastung muss gesenkt werden, weil sie die Wirtschaftsleistung behindert. Wer stimmt Herrn Kurz nicht zu?

Und wenn wir schon dabei sind: Auch die Staatsschulden sind zu hoch! Sie kommen (brutto) noch immer auf über 80 Prozent des Sozialprodukts. Wir sollten uns ja nicht mit Griechenland oder Italien vergleichen. Aber vielleicht mit Deutschland, den Niederlanden oder Finnland. Dort machen sie etwas über 60 Prozent aus. Dabei hat Deutschland die Wiedervereinigung mit Milliarden finanzieren müssen. In diesen Zahlen sind künftige Pensionsansprüche und sonstige unabweisbare Sozialleistungen (Pflege, Gesundheit) nicht enthalten. Für die gibt es übrigens in Österreich keine finanzielle Vorsorge: Sie werden von künftigen Steuerzahlern zu finanzieren sein. Der Abbau von Staatsschulden kann bei bescheidenem Wirtschaftswachstum und selbst bei niedrigen Zinsen lange dauern, Jahrzehnte. Ein Generationenproblem!

Und ganz klar: Der Staatshaushalt gibt zu viel aus. Für „seine“ Zwecke braucht er ziemlich genau die Hälfte des erwirtschafteten Sozialprodukts. Auch das um vier Prozentpunkte mehr als im europäischen Durchschnitt, um fünf Prozent mehr als in Deutschland. Österreich hat einen besonders hohen Sozialaufwand. Mitten im Wahlkampf haben sich übrigens gerade die beiden bisherigen Koalitionsparteien auf eine aufwendigere Pensionsanpassung als gesetzlich vorgesehen für Niedrigpensionen geeinigt. Das sei deren Beziehern gegönnt, nur müsste man den Mehraufwand an anderer Stelle einsparen.

Passen diese Fakten zusammen? Der Staat müsste sparsamer und effizienter wirtschaften, dann könnte er mit Budgetüberschüssen über einige Jahre die Schuldenquote senken. Wo sollte er einsparen? In einer europäischen Demokratie ist es nicht üblich, darüber im Wahlkampf genaue Auskünfte zu geben. Von Kürzungen betroffene Wähler könnten irritiert sein. Standard-Antworten auf diese Frage: sparen beim zu hohen Aufwand für Bürokratie, bei unnötigen Subventionen, bei der Mindestunterstützung für arbeitslose Asylwerber; und in Wien kommt auch noch regelmäßig: beim Föderalismus. In den übrigen Bundesländern: beim üppigen Aufwand der Gemeinde Wien.

Und genau hier liegt das Problem: Nach der Wahl wird sich die neue Regierung um eine mit guten Argumenten belegte Antwort auf diese Frage nicht drücken dürfen. Die gelernten Österreicher haben ausreichend Erfahrung: Steuersenkungen, die vor der Wahl angekündigt werden, können in der Regel in der rauen Wirklichkeit nicht voll durch Einsparungen gegenfinanziert werden. Das sieht man vorher zu optimistisch, die Widerstände können zu groß sein. Aber man kann sich die fehlende Gegenfinanzierung ja schmerzlos auf dem internationalen Kapitalmarkt ausborgen. Das kann man zusätzlich überdies damit begründen, dass Kredite derzeit besonders billig sind. Aber wie lange? Irgendwann werden die Zinsen sicher steigen.

Ganz klar: Steigende Staatsschulden passen nicht ohne Weiteres mit der Verheißung sinkender Steuern zusammen. Können wir uns eine weiter steigende Schuldenlast eigentlich leisten? Hier beginnt die ernsthafte politische Problematik. Vielleicht ist Ihnen die Verwendung des Wortes „wir“ im vorhergehenden Satz nicht aufgefallen. Wer ist „wir“? Die heutigen Steuerzahler oder die der kommenden Jahre, die jüngere Generation? Die bescheidene Zahl der Mindestrentner unter den Lesern oder die Gewerbetreibenden? Die Bauern, die über fallende Preise und Erlöse klagen, oder die Großfinanciers, vereinfacht als „Spekulanten“ tituliert?

Wer genügend Selbstbewusstsein hat und die Problematik aufgrund der persönlichen Erfahrungen als Privatmann oder Unternehmer und mit gesundem Hausverstand beurteilt, übersieht, dass der Staat andere Aufgaben hat und anderen Regeln unterliegt als ein Gewerbebetrieb oder Privathaushalt. Die Analogie zum seriösen Wirtschaften gilt in der Politik nur begrenzt.
In der Demokratie neigen Bevölkerung und Politiker zu fiskalischer Schizophrenie: Einerseits nimmt man die Rolle als Steuerzahler ein, andererseits die eines Empfängers staatlicher Aufträge und Subventionen; einerseits empfindet man weniger Knausrigkeit des Staates heute als wohltuend, andererseits geht es um die längerfristigen Konsequenzen. Künftige Steuerlasten drücken – selbst wenn sie teurer kommen – weniger, als heute auf staatliche Wohltaten zu verzichten.

Im politischen Drama „Staatsfinanzen“ stehen sich nicht einfach der Staat, vertreten durch den Finanzminister, und der Steuerzahler gegenüber. Meist kämpft der Finanzminister auch mit den übrigen Regierungskollegen. Das Spiel kennt jedoch noch zahlreiche andere handelnde Personen: Alte und Junge, Reiche und Arme, Faule und Fleißige – alle mit dem Ziel, möglichst besser wegzukommen als die Übrigen. Wahlwerbende Politiker versuchen sich möglichst großen Gruppen anzudienen. Und dazu treten noch auf: die internationalen Finanzmärkte, Rating-Agenturen, die EU, die Europäische Zentralbank, der Währungsfonds und, nicht zuletzt, die „Gnomen in Zürich“.

Wie weit sind die heutigen Steuerzahler, die ächzen und stöhnen, überhaupt die gleichen, welche aus Zinsen und Tilgung der Staatsanleihen einen Teil ihrer Einkommen oder Pensionen erwarten? Geht der Schuldendienst des Staates vielleicht auf Konten mit Adresse „Bahnhofstraße, Zürich“? Nicht die Nachfolger unserer heutigen Generation lukrieren den Ertrag, sondern die nächste Generation der Anleger in der Schweiz? Tatsächlich: Die österreichischen Staatsschulden wurden zu 70 Prozent im Ausland aufgenommen. In der EU weisen nur Zypern und Lettland einen höheren Anteil der Auslandsschulden aus.

Könnte man bei einer so komplexen Problematik die Lösung und die Widersprüche nicht der ökonomischen Wissenschaft anvertrauen? Sollte sie die Grenzen der Staatsschulden oder der Steuerbelastung bestimmen? Wann und wo genau gerät der Staat in eine fatale Schuldenfalle, wo beginnen die Steuerlasten die Dynamik der Wirtschaft abzuwürgen?

Unstrittige Antworten haben die Ökonomen nicht. Natürlich können ausgesprochen polemische, parteiische oder ideologische Ansichten aussortiert werden. Und sicher gibt es daneben auch solche, die unparteiisch im Sinne des Gesamtwohls urteilen. Bis zu einem gewissen Grad gibt es Konsens ernstzunehmender Wissenschaftler über Daumenregeln, die aus Erfahrung und Analyse gewonnen wurden. Aber Antworten hängen von so vielen Unsicherheiten über die Zukunft, von Annahmen und Eventualitäten ab, dass eindeutige und unbestrittene Ansichten nicht zu erwarten sind. Selbst der Nobelpreis für Ökonomie wurde schon an Professoren vergeben, die vollkommen gegensätzliche Theorien vertreten. An wen man sich am ehesten hält, richtet sich, wie in der Politik allgemein, nicht in erster Linie nach wissenschaftlichen Kriterien.

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