Gerald A. Matt

Kunstmanager, Publizist und Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst Wien

„Unmögliches darf man von niemandem verlangen“

Dezember 2015

Diesmal unterhielt sich Gerald Matt mit Bundespräsident Heinz Fischer, der als Vollblutpolitiker ein Leben in der Politik und für die Politik verbracht hat. Er hat nahezu alle wichtigen Ämter dieses Staates bekleidet: zuerst Clubsekretär, dann Abgeordneter im Parlament, Clubobmann der SPÖ, Wissenschaftsminister, stellvertretender Parteivorsitzender der SPÖ und Parlamentspräsident. Seit 2004 ist Fischer Bundespräsident. Heinz Fischer ist Politiker und, das ist ja heute in der Politik eine Seltenheit geworden, auch Intellektueller. Sein Leben und seine Karriere sind ein Spiegel der Geschichte der zweiten Republik. Und Heinz Fischer versteht zu erzählen.

Ich habe das Buch „Reflexionen“ mit großem Interesse und Vergnügen gelesen – eine spannende Geschichte der zweiten Republik. Es beginnt mit den exotischen Worten: „Niganam Niganam“. Was bedeutet das?

Das war das Jahr 43, ich war fünf. Meine Schwester war zwei und hat nicht begriffen, was Bombenangriffe bedeuten. Wenn Fliegeralarm mit einem Kuckuckssignal im Radio ertönte, rief sie jedes Mal vergnügt „Niganam Niganam Niganam“.
 

Zur Kindheit und zur Zeit während des Krieges – fällt dir eine Episode spontan ein?

Ja. Es waren die Bombenangriffe, die mich erschüttert haben. Mein Vater hat in sein Tagebuch geschrieben: „Heinz stellt interessante Fragen, ob die Bomben uns in den Keller nachfliegen können.“ Wenn wirklich eine Bombe in nächster Nähe eingeschlagen hat, dann ist das Haus erschüttert worden, und die im Keller gelagerte Kohle hat den Staub durch die Erschütterung aufsteigen lassen, und dann hat man sogar schwarze Nasenlöcher gehabt, und wenn man sich geschnäuzt hat, war es schwarz im Taschentuch.

Du kommst ja aus einer sehr politischen Familie. Der Vater war zuerst Sektionschef, dann Staatssekretär. Der Onkel Otto Sagmeister war Minister. War Politik ein zentrales Thema in der Familie und wann gingst du in die Politik?

Sowohl mein Vater als auch meine Mutter waren politisch aktiv. Und das hat erst recht für den Freundeskreis meines Vaters gegolten. Darunter war auch Franz Jonas. Was die beiden verbunden hat, war über die Politik hinaus die Begeisterung für die Kunstsprache Esperanto, weil beide, aber auch meine Mutter, glaubten, eine gemeinsame Sprache der Menschen könnte Krieg und Hass verhindern. Schon während meines Jus-Studiums habe ich den damaligen Abgeordneten zum Nationalrat Christian Broda kennengelernt. Wir haben uns hervorragend verstanden und vieles diskutiert. Aber ich wollte Anwalt werden, ich wollte nicht in die Politik gehen. Dann hat mich Leopold Gratz, der spätere Unterrichtsminister, der im Parlament gearbeitet hat, eingeladen, während ich Gerichts­praxis gemacht habe und mein Doktorat schon hatte, als Jurist ins Parlament zu gehen. Das war am 9. Oktober 1961, da feierte ich meinen 23. Geburtstag. Das war mein Start. Später jedoch habe ich mich an der Universität Innsbruck habilitiert. Das hat mir dann Sicherheit gegeben, weil ich gewusst habe, wenn es mich nicht mehr freut in der Politik, oder wenn es andere mit mir nicht mehr freut, dann kann ich was anderes machen.

Darf ich dich jetzt zu einem Skandal befragen, den du mit aufgedeckt hast?

Du sprichst die berühmte Causa Borodajkewycz an. Das hat genau vor fünfzig Jahren einen tragischen Höhepunkt gefunden, im Sommer 1965, mit zwei Demonstrationszügen: Pro-Borodajkewycz mit den Worten „Juden raus“, Anti-Borodajkewycz mit der Parole „Nazi raus“. Und dann hat es beim Sacher einen Zusammenstoß gegeben, wo ein bekannter Raufbold der rechten Szene einen Widerstandskämpfer, der aus dem KZ gekommen ist, so ins Gesicht geboxt hat, dass der gestürzt und verstorben ist – das erste Todesopfer aus einer politischen Auseinandersetzung in der zweiten Republik. Ein Student von der Hochschule für Welthandel, Ferdinand Lacina, hatte eine Mitschrift der Vorlesung angefertigt. Er konnte sich jedoch nicht deklarieren, ohne an der Uni gemobbt zu werden. Daher habe ich das übernommen und bin deshalb verurteilt worden, weil der Richter den Professor Borodajkewycz auf der Basis einer anonymen Mitschrift nicht verurteilen konnte. Später in einer Pressekonferenz wiederholte Professor Borodajkewycz seine Nazisprüche und antisemitischen Anwürfe gegen Hans Kelsen, den Vater der österreichischen Verfassung. Ich wurde freigesprochen und Borodajkewycz verurteilt. Dann hat es, glaube ich, noch sechs Jahre gedauert, bis er suspendiert wurde und dies mit einer strafweisen Kürzung seiner Pension um ein Prozent.

Das zur Vergangenheitsbewältigung damals. Ich komme zu Bruno Kreisky. Du warst einer seiner Mitarbeiter, Weggefährte von Kreisky, was hat dich am meisten fasziniert an ihm?

Er war in der Art, wie er gedacht hat, in seiner Art, wie er argumentiert hat, in seinem historischen Wissen, in seiner Führung einer Diskussion, einzigartig. Er war ein Homo Politikus der Sonderklasse und gleichzeitig ein Intellektueller, der sich Zeit genommen hat für andere Bereiche, der mit Künstlern und Wissenschaftlern Kontakt gehalten hat, mit dem man über Bücher und Neuerscheinungen reden konnte.

Darf ich dich fragen, hat es auch etwas gegeben, das dich irritiert hat?

Wenn ich es verallgemeinere, konnte der Bruno Kreisky in manchen Dingen so emotional sein, dass er sich auch zu ungerechten und übers Ziel schießenden Worten oder Handlungen hat hinreißen lassen. Das betrifft natürlich Simon Wiesenthal, aber auch Hannes Androsch.

Es gibt ja den berühmten Satz von Max Weber: Politik bedeutet das starke langsame Bohren harter Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß. Was war für dich das härteste Brett?

Die Politik ist ein unendliches Brett. Die Behauptung, dass irgendwann das Ende der Geschichte, wie das Fukuyama gemeint hat, oder das Ende der Politik gekommen sein könnte, dass man irgendwann durch ist durch das Brett, das stimmt ja nicht. Das ist ein permanenter Prozess. Ich sag immer: Wenn man ein Problem gelöst hat, hat man gleichzeitig zwei neue geschaffen. Ein besonders hartes Teil Brett war beispielsweise die Strafrechtsreform der frühen 1970er-Jahre mit Christian Broda. Mit der Frage der Entkriminalisierung der Homosexualität. Oder die Frage des Schwangerschaftsabbruchs und des Familienrechts. Meine Frau sagt immer, dass zu den Dingen, die sie mir in unserer langen und guten Ehe am meisten anrechnet, die Tatsache gehört, dass ich für ein Gesetz gestimmt habe, welches Schluss gemacht hat mit jenem Paragrafen im alten Eherecht, in dem es geheißen hat, der Mann ist das Oberhaupt der Familie, die Frau hat seine Anordnungen zu befolgen und befolgen zu machen. Dieser Zusatz hat sie besonders geärgert.

„Der Zweck heiligt die Mittel“ – eine Parole, die du, glaube ich, dezidiert ablehnst.

Ja. Zu den interessantesten Büchern, die ich je gelesen habe, gehört das Buch von Arthur Koestler, „Sonnenfinsternis“. Das er geschrieben hat als ein Mensch, der in seiner Jugendzeit Kommunist wurde und sich noch vor 1939 vom Kommunismus losgesagt hat. Und dieses Buch beschäftigt sich sehr intelligent mit dieser Frage. Und er kommt dann zu dem Schluss und sagt, das scheint alles logisch zu sein, dass ein Armeekommandant eine Kompanie opfert, um ein Bataillon zu retten. Letztlich steht man dann immer vor einem moralischen Chaos, weil – Zitat Koestler – „zwei mal zwei nicht vier ist, wenn es um Menschenleben geht“. In einer Demokratie kann der Grundsatz „Der Zweck heiligt die Mittel“ auf keinen Fall legitimiert werden. Das sind Probleme, mit denen sich ja auch der von mir sehr geschätzte Leszek Kołakowski beispielsweise in seinem Buch „Der Mensch ohne Alternative“ auseinandersetzt. Und viele andere auch, wie Sartre in „Die schmutzigen Hände“.

Du scheinst eines der wenigen Beispiele eines Politikers zu sein, der gezeigt hat, dass Familie und Kinder mit Politik vereinbar sind.

Ja, die Zeit für die Familie habe ich mir immer genommen. Als Fred Sinowatz seine Regierung gebildet hat, fragte er mich, ob ich das Außenministerium übernehmen wolle. Nach kurzer Bedenkzeit lehnte ich in Absprache mit meiner Frau Margit ab, indem ich sagte: „Regierung ja, Politik ja, aber nicht Außenministerium, wo man zu viel im Ausland ist.“ Und so konnte ich bei der Erziehung unserer Kinder mitwirken, die die Margit großartig gemanagt hat. Und ich habe ja nahe beim Parlament gelebt. Und da ist es oft vorgekommen, dass die Margit angerufen und gefragt hat, ob ich auf eine Viertelstunde nach Hause kommen kann – was ich gemacht habe. Und wenn ich jetzt mit meiner Tochter oder mit meinem Sohn rede, die sagen nicht, na ja, aber du warst halt so viel weg oder so. Die beschreiben das eigentlich so, wie ich mir das immer gewünscht habe.

Wie definierst du die Rolle des Bundespräsidenten? So zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik, Begriffe von Max Weber, aber vielleicht noch weiter, ganz banal gefragt, darf ein Bundespräsident Partei ergreifen?

Also die Verfassung gibt dem Bundespräsidenten eine starke Position – von der Ernennung des Bundeskanzlers über die Entlassung der Regierung bis zum Oberbefehl über das Heer –, daher ein eindeutiges Ja. Vom ersten Tag der zweiten Republik an haben aber alle Präsidenten übereinstimmend eine Staatspraxis angewendet, in der sich der Bundespräsident als ein Staatsorgan betrachtet, das über den Parteien steht und sich darauf konzentriert, das gesamtstaatliche Interesse wahrzunehmen. Auch ich halte dieses Modell für gut und fühle mich ihm verpflichtet.

Du hast in der Flüchtlingskrise Stellung bezogen, auch eine klare menschliche Haltung gezeigt, auf deine Einladung ist auch die Bundesregierung nach Traiskirchen gefahren, dennoch möchte ich in dem Zusammenhang auch aus einer viel beachteten Rede des deutschen Bundes­präsidenten Gauck zitieren: „Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich.“ Teilst du diese Meinung und gibt es eine Grenze der Humanität zugunsten der Staatsräson?

Also ich habe es anders formuliert in einem Interview in der „Presse“, als Jurist: „Ultra posse nemo tenetur.“ Das heißt: Unmögliches darf man von niemandem verlangen. Das gilt für alle Bereiche der Politik. Bei der Frage, wie man mit Flüchtlingen umgeht, ist aber sehr vieles möglich, was manche leichtfertig oder aus welchen Gründen auch immer als unmöglich bezeichnen.

Letzte Frage. Du bist als Bundespräsident bis zum 8. Juli 2016, Mittags im Amt. Was wirst du am Nachmittag machen?

Vermutlich mich ausschlafen. Ist doch ein schöner Schluss, oder?

Vielen Dank für das Gespräch!

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