Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Von der Diktatur der Moral

Juli 2015

Günter Ogger (74), Wirtschaftsjournalist und Schriftsteller, warnt im Interview mit „Thema Vorarlberg“ vor den Moralisten unserer Gesellschaft – und davor, wie sich der Einzelne immer stärker dem Diktat der moralisierenden Mehrheit zu beugen hat. Auch vor dem Hintergrund, „dass Moral und Heuchelei oft Hand in Hand gehen“.

Sie sehen die Gesellschaft von einem neuen Moralismus befallen.

Ja. Indiz für die zunehmende Moralisierung sind die ständigen Medienberichte über alle möglichen Skandale. Warum regt man sich denn über Bestechung, Korruption oder Doping so auf? Weil die Menschen moralischer geworden sind. Sie legen höhere Messlatten an ihre Zeitgenossen an, vor allem an Politiker, Unternehmer, Sportstars. Alle, die aus der Masse herausragen, werden heute nach  moralischen Gesichtspunkten bewertet und nicht mehr, wie früher, nach ihren fachlichen Qualitäten.

Und was ist Ihrer Ansicht nach für den gestiegenen Moralismus verantwortlich?

Dafür sind nicht ein einzelnes Ereignis oder eine einzelne Strömung verantwortlich. Einen akuten Schub des Moralismus hat sicherlich die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 ausgelöst, nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers in den USA. Das hat den Leuten schlagartig klargemacht, wie fragil der Wohlstand ist, wie empfindlich das ganze Weltwirtschaftssystem reagieren kann. Und sie bekamen Angst. Angst um ihre Jobs, ihre Vermögen, ihre Häuser, ihre Aktien. Und Angst ist immer ein guter Nährboden für Moral. Man sehnt sich nach den wahren Werten – nach Güte, Nächstenliebe, Sauberkeit und Transparenz.

Was ja an sich nichts Schlechtes wäre …

Natürlich nicht! Das Problem mit dem Moralismus besteht aber darin, dass Menschen, die glauben, selber nach moralischen Prinzipien zu handeln, schnell diese Prinzipien verabsolutieren. Das heißt, sie verlieren ihre Toleranz gegenüber anders denkenden und anders handelnden Menschen. Moralisten werden diesen Menschen gegenüber intolerant. Das zeigt sich im Übrigen in der abendländischen Kulturgeschichte. Als die Kirche die alleinige Setzerin von Werten war und die Gebote aufstellte, nach denen die Menschen zu leben haben, begann sie sehr schnell, dies auch zu verabsolutieren. Die Missionierung, die Versklavung anderer Völker geschahen im Namen des einzigen wahren Gottes und dessen Moral. Denken Sie nur an die Ureinwohner Südamerikas. Inzwischen hat die Kirche an Einfluss verloren. Aber Moralisten zeigen heute dieselbe Verabsolutierung, dieselbe Intoleranz wie früher die Kirche – sie wollen anderen ihr Weltbild oktroyieren und sie so domestizieren. Das führt aber eher zur Lähmung einer Gesellschaft und nicht zu einer Befruchtung, wie das so manch gutgläubiger Politiker oder Diskutant sehen möchte.

In Ihrem aktuellen Buch „Die Diktatur der Moral“ schreiben Sie, dass das Gute unsere Gesellschaft blockiert. Klingt recht drastisch.

Drastisch? Der neue Moralismus steht erst am Anfang seiner Entwicklung! Wenn man diesen Trend gedanklich für die nächsten Jahrzehnte fortschreibt, wird das zu einer richtigen Diktatur. Ich sehe die große Gefahr, dass wieder eine Verabsolutierung moralischer Werte stattfindet, die sowohl die wirtschaftliche Entwicklung als auch technische Innovationen und vieles andere blockieren kann. Vor allem beschneidet sie die Vielfalt und Offenheit unserer Gesellschaft.

Weil Moralisten, wie Sie an einer Stelle im Buch festhalten, nicht andere Meinungen bekämpfen, sondern das – aus ihrer Sicht – schlichtweg Böse.

Das ist ja das Problem mit der Moral. Moralisten sind nicht bereit, ein politisches, wirtschaftliches oder gesellschaftliches Problem auf der fachlichen Ebene zu lösen. Sie sehen es moralisch, und in der Gegenseite deshalb stets das absolut Böse. Nehmen Sie den Bankensektor als Beispiel. Da kämpft man dann nicht mehr gegen bestimmte Problembereiche des Geldgeschäfts, etwa gegen die übermäßige Ausweitung der Geldmenge oder gegen bestimmte Derivate, die als finanzielle „Massenvernichtungswaffen“ missbraucht wurden, sondern sieht in den Banken generell das Böse und in allen Bankmanagern Verbrecher. Das erschwert die Auseinandersetzung auf der Ebene, auf der solche Debatten geführt werden sollten – nämlich auf der technisch-sachlichen. Aber bei den Gutmenschen ist Sachkunde selten gefragt. Anderes Beispiel: In den Augen eines überzeugten Vegetariers ist ein Zeitgenosse, der zugibt, Fleisch zu essen, per se sofort ein Bösewicht. Tiere dürfen nicht geschlachtet und nicht gegessen werden! Er verinnerlicht seine Überzeugung beinahe zu einer Religion. Und die Veganer sind ja noch extremer. Sachlich debattieren kann man mit solchen Menschen meistens nicht. Es gilt ausschließlich ihre Meinung, und die soll der alleinige Maßstab für alle anderen Menschen sein.

Mit einem Moralisten zu diskutieren ist also ungefähr so spannend wie mit einem Anrufbeantworter zu reden.

Ja (lacht). Solche Menschen sind eben nicht bereit, gegenteilige Meinungen zuzulassen, weil sie von sich und ihren Werten überzeugt sind. Und mit der Toleranz ist es dann ganz schnell aus. Eine Diskussion mit einem überzeugten  Moralisten zu führen, ist fruchtlos. Nehmen wir die Klimapolitik. Obwohl die wissenschaftlichen Grundlagen der Theorie der Klimaerwärmung alles andere als gesichert sind, haben sich die Politiker auf die Annahme dieser Theorie verständigt – weil es für die Politiker Vorteile bringt, einer vermuteten Gefahr entschlossen den Kampf anzusagen. Das macht sie in den Augen der Wähler handlungsfähig und führungsstark. Und so wurde aus der Theorie der Klimaerwärmung ein Dogma, gegen das kein Einwand mehr möglich ist. Wer behauptet, dass das alles nicht auf gesicherten Erkenntnissen, sondern auf einer bloßen Theorie fuße, wird als Ignorant gescholten. Als die Klimapolitik zu Gesetzen führte, die unsere Energieversorgung ebenso wie den Verkehr zu völlig neuen Lösungen zwangen, blieb den Unternehmen gar nichts anderes übrig, als sich diesem Diktat zu beugen – obwohl die Umstellung von Kohle- und Atomkraft auf erneuerbare Energien viele Milliarden kostet und Konzerne wie E.on oder RWE an den Rand des Ruins führte. Auch die Autoindustrie leidet gewaltig unter dem Diktat der grünen Moral. Sie kann den CO2-Ausstoß ihrer Fahrzeuge nur mit völlig neuen Produktionstechniken und Antriebssystemen auf das gewünschte Maß reduzieren. All das kostet gigantische Summen, für die letztlich wieder der Kunde geradestehen muss.

Aber die Industrie verdient doch auch an der „grünen Technik“?

Ja, speziell die deutschen und die österreichischen Unternehmen haben schnell begriffen, dass der von der Moral erzwungene Umweltschutz geschäftliche Chancen bietet. Also entwickelten sie bessere Filtertechniken, effizientere Motoren und Maschinen und hoffen, die von der Politik verordneten Kosten auf diese Weise kompensieren zu können. Auch die Textil- und die Nahrungsmittelindustrie sprangen auf den Zug auf und werben mit Gesundheitsargumenten, mit fairem Handel und sozialer Verantwortung. Die Moral ist auch eine ökonomische Supermacht des 21. Jahrhunderts.

Und der Bürger opfert seine Freiheit auf dem Altar einer nirgendwo genau definierten Moral?

So ist es. Mit moralischen Argumenten lassen sich alle möglichen Verbote durchsetzen. Nehmen Sie das Rauchverbot in öffentlichen Lokalen oder die neuen Versicherungstarife, die demjenigen, der sich täglich überwachen lässt, Rabatte auf seine Prämien einräumen. Bald werden Sportwagenfahrer, Übergewichtige oder Alkoholiker mit horrenden Prämien für ihre Laster büßen müssen. Wer anders als die Mehrheit tickt, gilt als unmoralisch. Doch die vom Staat oder einzelnen Unternehmen erlassenen Verhaltensgebote sind nicht uneigennützig. Wer gesund lebt, verursacht geringere Krankheitskosten, zum Vorteil der Krankenkassen. Wenn ihnen der Staat mit seiner Anti-Raucher-Kampagne hilft, dann verschweigt er geflissentlich, dass er an der Tabaksteuer Milliarden verdient. Mit Alkohol ist es ähnlich. Was von der Politik als Mehrheitsmeinung aufgefasst wird, wird zum absoluten Gesetz. Und die Toleranz gegenüber dem Einzelnen, der sich dieser Mehrheitsmeinung nicht fügen möchte, sinkt. Die Toleranz einer Gesellschaft nimmt in dem Maß ab, in dem die Moralisierung einer Gesellschaft zunimmt. Und wenn Moral und Ideologie ein Bündnis schließen, dann bleibt die Freiheit auf der Strecke.

Sie schreiben an einer Stelle, dass Medienmacher und Politik das Spiel mit der Moral perfekt beherrschen würden. Allerdings das mit der Doppelmoral …

Nachdem Politik und Medien begriffen hatten, dass die Masse der Bevölkerung für moralische Argumente anfällig ist, haben sie auch versucht, daraus Kapital zu schlagen. Politiker sind daran interessiert, das Wohlwollen ihrer Wähler zu gewinnen, Printmedien wollen höhere Auflagen, Fernsehsendungen mehr Zuschauer. Da geht es um egoistische Ziele, die aber unter dem Deckmantel einer Moralkampagne geführt werden. Die Medienhatz auf den ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff ist da ein gutes Beispiel. Obwohl schnell widerlegt wurde, was ihm von den Medien vorgeworfen wurde, musste der Mann abtreten. Er wurde Opfer einer moralisierenden Medienkampagne.

Die Jagd auf den Bundespräsidenten glich jener auf die Steuerflüchtlinge …

… und dabei scheuten Politiker und Finanzbeamte nicht vor der Verletzung jeglicher Moral zurück. Nachdem sich viele Staaten für die Rettungsaktionen zugunsten notleidender Banken übermäßig verschulden mussten, versuchten sie, so viel Geld wie nur irgend möglich einzutreiben. Und da entdeckten sie schnell die Steuerhinterzieher als willkommene Opfer. Und mancher Minister hat sich dabei profiliert, indem er auf höchst dubiose Weise Hehlerware ankaufte. Der Bundesnachrichtendienst hat einen Liechtensteiner Bürger regelrecht bestochen, ihm Millionen Euro für die Lieferung von gestohlenen Daten bezahlt. Der Deal wurde nach außen hin als moralische Notwendigkeit verkauft, weil es auf diese Weise gelinge, Volksschädlinge zur Strecke zu bringen. Dabei haben nicht wenige dieser „Volksschädlinge“ gewiss mehr für die Konjunktur getan als die meisten Politiker. Ansonsten hätten sie ja gar keine Steuern hinterziehen können …

Sie sagen, Moral und Heuchelei gingen Hand in Hand. Im Buch findet sich der Satz: „Wo Moral ihre Macht zeigt, ist die Heuchelei nicht weit – und manchmal fällt es schwer, den Unterschied zu erkennen.“

Das stimmt. Schauen Sie bloß mal in die Talkshows des deutschen Fernsehens rein. Mit schöner Regelmäßigkeit werden im Namen der sozialen Gerechtigkeit, also der Moral, Unternehmen wie Amazon, Kik, die Post oder andere wegen angeblich mickriger Löhne und niedriger sozialer Standards an den Pranger gestellt. Die Moderatoren, die den Unmut über die „Großkopferten“ schüren, verdienen aber selbst oft sechs- oder siebenstellige Summen. Ihnen geht es nicht wirklich um das Schicksal schlecht bezahlter Lagerarbeiter oder Verkäuferinnen, sondern um ihre Einschaltquote, von der ihre künftige Karriere abhängt. Wenn das keine Heuchelei ist …

NGOs sind für Sie „die Speerspitzen der Moralisierung“.

Organisationen wie Greenpeace, Amnesty International, Oxfam oder Attac haben in den letzten Jahren eine enorme Bedeutung gewonnen. Warum eigentlich? Nun, wenn solche aggressiven Gruppen genug medialen Wirbel verursachen, können sie der schweigenden Mehrheit schnell ihre Meinung aufzwingen. Mehr noch: Inzwischen diktieren sie vielfach die Agenden der Weltpolitik. Die Klima- und Umweltpolitik wurde von ihnen ebenso geprägt wie der weltweite Kampf für die Menschenrechte. Das ist an sich lobenswert. Problematisch wird das Wirken der NGOs, wenn ihre Anführer selbstherrlich befinden, welche Kampagnen gegen welche Staaten, Parteien oder Personen organisiert werden. Dabei ist die einzige Legitimation dieser Organisationen lediglich eine von vielen Menschen akzeptierte Moral. Im Übrigen ist auch die innere Demokratie der meisten dieser NGOs sehr schlecht entwickelt – einige wenige Großspender und Organisatoren diktieren den Kurs, Millionen Mitglieder und Spender haben praktisch keinen Einfluss.

Wie lautet denn Ihr Fazit?

Die Moral wird flächendeckend missbraucht. Deswegen sollte man die Naivität gegenüber moralischen Argumenten aufgeben und immer genau hinterfragen, was Regierungen, Organisationen oder bestimmte Gruppen wirklich erreichen wollen. Denn häufig streben sie etwas anderes an als das, was sie vorgeben. Moral ist stets unter dem Blickwinkel möglicher Doppelmoral zu werten. Und ich halte es generell für schädlich, wenn man moralischen Argumenten dermaßen viel Beachtung schenkt, wie das derzeit der Fall ist. Wenn die Moral den sachlichen Diskurs verhindert, sehe ich für die freie Entwicklung unserer Gesellschaft schwarz.

Vielen Dank für das Gespräch!

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