René Schmidpeter

Er ist ein international anerkannter Stratege für CSR (Corporate Social Responsibility), Vordenker und Publizist. Er lehrt an renommierten Hochschulen im In- und Ausland und ist wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für humane Marktwirtschaft in Salzburg. Er hat zudem einschlägige Publikationen zum Thema „Gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen“ veröffentlicht und ist Herausgeber der CSR-Management-reihe sowie der internationalen Flaggschiffreihe „CSR, Sustainability, Ethics and Governance“ beim Verlag Springer Gabler.

Wir brauchen neue Mobilitätsprodukte

November 2015

VW steckt in seiner schwersten Krise, der Ausgang ist ungewiss. Dennoch muss der Blick nach vorn gehen. Welche Lehren muss das Unternehmen ziehen? Wie muss sich das Management künftig aufstellen? Eine Außenansicht.

Viele Beobachter konstatieren derzeit beim Management des Volkswagen-Konzerns ein Ethik- beziehungsweise Compliance-Versagen. Doch ist dies wirklich das eigentliche Problem? Oder nur das Symptom einer viel tiefer liegenden Ursache? Die Kritik, dass einige wenige Manager einen ganzen Konzern ins Wanken bringen und damit die Zukunft der deutschen Automobilindus­trie bedrohen, mag zunächst nach einer einfachen Erklärung klingen. Doch handelt es sich wirklich nur um die Folge von ethischem Fehlverhalten Einzelner oder um die Folge eines fundamental überholten Nachhaltigkeitsverständnisses des gesamten Unternehmens?

Hat Volkswagen also ein individuelles Ethik-Problem oder aber ein weitreichendes strategisches Managementproblem? Bei ersterer Annahme ginge es hauptsächlich um die Verschärfung von Kontroll- und Compliance-Strukturen, um zukünftiges Fehlverhalten rechtzeitig zu verhindern. Bei der zweiten Interpretation wären die Konsequenzen für das Unternehmen viel weitreichender: Es ginge dann um nicht mehr oder weniger als die völlige Neuausrichtung des VW-Konzerns zu einem Anbieter neuer Mobilitätslösungen.

Volkswagen und damit auch das Tochterunternehmen Audi befinden sich in einer ähnlichen Situation wie die Hersteller von Pferdekutschen im 19. Jahrhundert. Damals setzten die marktbeherrschenden Kutschenhersteller in erster Linie auf schnellere Pferde, um ihren unternehmerischen Erfolg zu sichern. Ähnlich haben die Automobilhersteller in den letzten Jahren ihre Verbrennungstechnologie immer weiter verbessert, um ihre Vormachtstellung global auszubauen.

Jedoch kam bei den Kutschenherstellern damals alles ganz anders: Diese verschwanden innerhalb weniger Jahre vom Markt, weil sich eine innovativere Mobilitätslösung durchsetzte – das Auto. Dieses ermöglichte im Vergleich zu den Pferdekutschen einer viel größeren Anzahl von Menschen eine individuelle und kostengünstige Mobilität. Derzeit befinden wir uns in einer ähnlichen Situation. Diesmal stellt sich jedoch nicht die Frage, was kommt nach der Pferdekutsche, sondern die Frage: Was kommt nach dem Auto, wie wir es kennen?

Um diese Frage zu beantworten, braucht es ein neues Management-Paradigma, welches ein modernes Nachhaltigkeitsverständnis konsequent in die Strukturen, Prozesse und alle Unternehmensentscheidungen integriert. Hierbei stellt sich die zentrale Frage: Wie kann die Mobilität von nahezu acht Milliarden Menschen aussehen?

Das Nachdenken über diese Frage – insbesondere vor dem Hintergrund asiatischer Megastädte mit bald über 100 Millionen Einwohnern – macht klar: Wir brauchen völlig neue Mobilitätsprodukte, Dienstleistungen und Unternehmensansätze, um den vielfältigen ökologischen und sozialen Herausforderungen einer globalen Welt zu begegnen. Nur Unternehmen, die hierauf Antworten finden, werden in Zukunft bestehen. Dazu muss das Nachhaltigkeitsverständnis grundlegend neu gedacht werden – nämlich unternehmerisch. Ähnlich wie in der Industrialisierung, in der völlig neue Durchbruchstechnologien entstanden sind, leben wir wieder in einer Zeit, in der wir Neues nicht nur zulassen, sondern aktiv befördern müssen.

Bei uns galt in der Nachhaltigkeitsdiskussion zu lange der Grundsatz, nur so viel Holz abzuholzen, wie nachwächst. In dieser Sichtweise sind nur die bestehenden ökologischen Grenzen einzuhalten, die wirtschaftliche Wertschöpfung hat sich im Wesentlichen diesen natürlichen Grenzen unterzuordnen. Aus diesem Grundsatz heraus wurden in den letzten Jahrhunderten immer neue betriebliche Ziele definiert, um die Umwelt- beziehungsweise Sozialbelastung zu verringern.

Die „negative“ Bilanz der unternehmerischen Prozesse wird dabei genau erfasst, um die gesetzlichen beziehungsweise selbst gesetzten Limits einzuhalten (oder auch nicht – wie im Fall Volkswagen). Dieses im Management vorherrschende Nachhaltigkeitsverständnis ist sehr defensiv und bremst die ökonomische Wertschöpfung oder führt, wenn die Einhaltung wirtschaftlich nicht sinnvoll – das heißt, zu teuer – erscheint, zu illegalen Vermeidungsstrategien. Nach dem Motto: Legt der Gesetzgeber die Latte nur hoch genug, dann geht man einfach unten durch. Jedoch sind aus dieser Perspektive neue Impulse, die über immer ausgeklügeltere Vermeidungsstrategien hinausgehen, nicht zu erwarten. Konsequenterweise spielt diese einseitig auf Vermeidung ausgerichtete Nachhaltigkeits- und Ethikperspektive eine untergeordnete Bedeutung, da sie keinen originären Beitrag zur Wertsteigerung des Unternehmens liefert. Nachhaltigkeit reduziert sich daher im Unternehmen oft auf Compliance und Public Relations.

Denkt man jedoch Nachhaltigkeit aus einer konsequent unternehmerischen Perspektive, geht diese weit über eine reine Vermeidungslogik hinaus. Denn für einen Unternehmer ist es insbesondere wichtig, die positiven Auswirkungen seines Handelns zu managen bzw. zu steigern. Bei dieser progressiven Sichtweise geht es nicht mehr zentral darum, den Schaden unternehmerischen Handelns zu minimieren, sondern die Wertschöpfung des Unternehmens für die Gesellschaft zu erhöhen. Anstelle des Paradigmas der Schadensvermeidung bedarf es daher des neuen Paradigmas der „positiven Wertschöpfung“.

Ähnlich wie im 19. Jahrhundert sind daher abermals visionäre Unternehmer und Wirtschaftslenker gefragt, die die Zeichen der Zeit erkennen und ganz neue Lösungen für die zahlreichen gesellschaftlichen Probleme generieren. Die Frage, was kommt nach dem Auto, ist zuallererst eine unternehmerische. Die Herausforderung für Volkswagen wird nicht in erster Linie die Compliance sein, sondern ein Innovationsmanagement zu entwickeln, das die positiven Wirkungen des Unternehmens für die Gesellschaft fundamental steigert. Erst in diesem Spannungsfeld zwischen Wirtschaft und Gesellschaft werden die Innovationen entstehen, die das Unternehmen wieder auf Erfolgskurs bringen.
Dieser sogenannte „süße Punkt“, in dem Unternehmens- und gesellschaftliche Interessen in Einklang gebracht werden, führt nicht nur zu neuen Produkt-, Prozess- und Managementinnovationen, sondern erschließt auch neue Märkte und Kundengruppen und ermöglicht so ganz neue Geschäftsmodelle.

Es ist folgerichtig, dass sich Themen wie „Verantwortungsvolle Unternehmensführung“ (CSR) und Nachhaltigkeit zu proaktiven Managementthemen entwickeln müssen. Dabei geht es nicht mehr nur um ethische oder gesetzliche Pflichterfüllung, sondern um Kreativität, Unternehmertum und Innovationen, die Nutzen für das Unternehmen, aber vor allem Mehrwert für die Gesellschaft bedeuten. Somit ist das Erste, was Volkswagen ändern sollte, das vergangenheitsorientierte Motto „VW – Das Auto“ in „VW – Nachhaltige Mobilität“!
Es geht nicht mehr um die Frage Wirtschaftlichkeit oder Nachhaltigkeit, sondern um ein neues Managementparadigma, welches Nachhaltigkeit und Profitabilität konstruktiv miteinander verbindet. Dazu braucht VW eine Innovationsoffensive für nachhaltige Mobilität und eine Antwort auf die Frage: Was kommt nach dem Auto? Diese Neuausrichtung auf eine der wichtigsten Zukunftsfragen wird ganz neue Potenziale entfesseln und helfen, die Strukturen des Konzerns zu erneuern. Dazu ist es notwendig, die bestehende Unternehmensstrategie grundlegend neu zu formulieren. Das klare Bekenntnis zur E-Mobilität ist ein wichtiger und richtiger Schritt.

Der VW-Konzern hat unbestritten viele Stärken (zum Beispiel hoch qualifizierte Mitarbeiter), die es gilt, auf das neue Ziel der nachhaltigen Mobilität auszurichten. Dabei darf die Nachhaltigkeitsstrategie nicht länger neben der Unternehmensstrategie stehen, sondern muss systematisch in alle Unternehmensbereiche integriert werden. Das Topmanagement muss selbst mit voller Überzeugung hinter dieser strategischen Neuausrichtung stehen und dabei alle auf diesen zukunftsfähigen Weg mitnehmen. Insbesondere gilt es, die Mitarbeiter zu Beteiligten zu machen, um die volle Akzeptanz für die notwendigen Veränderungen zu erhalten. Dies gelingt nur, wenn zukünftig die bestehenden Strukturen flach und dezentral gestaltet werden und so ein optimaler Informationsaustausch zwischen den Abteilungen und Hierarchien befördert wird. Dazu ist ein Umdenken aller Managementebenen und eine Öffnung zwischen den Verantwortungsbereichen nötig, um nach innen und außen die Kooperationsfähigkeit zu erhöhen. Verantwortung kann man nicht delegieren, und es wird mehr denn je auch in der Eigenverantwortung eines jeden Einzelnen liegen, die neuen gemeinsam formulierten Unternehmensziele aktiv zu befördern. Transparenz und eine klare Unternehmensausrichtung sind hierbei unerlässlich.

Es gilt in erster Linie das verloren gegangene Kundenvertrauen zurückzugewinnen, indem die gegenwärtigen und vor allem die zukünftigen Kundenwünsche in Bezug auf nachhaltige Mobilität ernst genommen werden. Gemeinsam mit Kunden, Zulieferern und Mitarbeitern gilt es die Mobilitätsanforderungen des 21. Jahrhunderts zu identifizieren, um in enger Zusammenarbeit neue Lösungsansätze voranzutreiben. Nachhaltigkeit und CSR sind dann keine zusätzliche Aufgabe einer isolierten Abteilung, sondern ein integraler Bestandteil des gesamten Innovations- und Wertschöpfungsprozesses des Unternehmens.

Hauptvorteil der direkten Integration von Nachhaltigkeit in den Veränderungsprozess des Unternehmens ist die Tragfähigkeit der daraus entstehenden Lösungen. Je mehr gesellschaftliche Innovationen von einem reinen Zusatzgeschäft zum betrieblichen Kerngeschäft werden, desto mehr gewinnen sie an betriebswirtschaftlicher Bedeutung für das Unternehmen und sichern so die Zukunftsfähigkeit von VW. Es gilt, insbesondere in wirtschaftlich schwierigen Zeiten den Blick in die Zukunft zu richten. Die Vergangenheitsbewältigung und der Blick zurück („VW – Das Auto“) darf den Blick nach vorne nicht verstellen. So kann die Krise am Ende den Beginn einer neuen Ära „VW – Nachhaltige Mobilität“ einläuten.

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.