Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Wir haben uns mit unserer Dummheit arrangiert“

November 2017

Emil Kowalski (79), Schweizer Experimentalphysiker und Buchautor, sagt, dass der moderne Mensch das komplexe Räderwerk der Zivilisation nicht mehr ansatzweise überschaue, sich seines Nichtwissens aber immer weniger bewusst sei. „Der Mensch“, sagt Kowalski, „ignoriert seine Ignoranz und erliegt der Illusion der Beherrschung seiner Zivilisation, mehr intellektuelle Demut wäre wichtig.“

In Ihrem aktuellen Buch „Dummheit – eine Erfolgsgeschichte“ heißt es, die Gesellschaft habe prinzipiell zwei Wege, mit der Dummheit der Menschen umzugehen.

Ja. Man kann, erstens, versuchen, alle Menschen wissend zu machen, gebildet und klar denkend und frei von Vorurteilen und Aberglauben. Man kann mit Kant hoffen, den Menschen von seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit zu befreien und das Hohelied der Aufklärung singen. Und man kann sich, zweitens, mit der Dummheit, der Willensschwäche und den anscheinend unvermeidlichen moralischen Defiziten der Menschen abfinden. Ich bin Wissenschaftler, Experimentalphysiker, und sage, dass man ja den Versuch vorziehen müsste, das Wissen generell zu steigern, dem Anspruch des Menschen an seine Intelligenz entsprechend. Doch das wird nicht gelingen. Vielmehr ist die Akzeptanz der Dummheit der einzig mögliche Weg. Die Fähigkeit, mit der Dummheit des Menschen zu rechnen, ist überhaupt erst Voraussetzung unserer funktionierenden Gesellschaft.

Das bedarf dann wohl doch einer Erklärung …

Wir wähnen uns zwar als Wissensgesellschaft, aber vom komplexen Räderwerk der Zivilisation haben wir nur selten mehr als einen Hauch verstanden. Der Wohlstand unserer technischen Zivilisation beruht darauf, dass wir laufend Geräte bedienen, die sich andere ausgedacht haben. Wir treffen politische Entscheidungen, ohne ihre Tragweite zu erfassen, wir sind Teil von komplexen Systemen, die wir nicht überblicken. Wir nutzen Artefakte, ohne ihre Funktion, ihr Innenleben zu verstehen; wir werden von Organisationen und Einrichtungen vertreten, die wir nicht durchschauen, und insgesamt merken wir gar nicht mehr, wie wenig wir vom ganzen zivilisatorischen Betrieb überblicken.

Die menschliche Zivilisation, stellen Sie im Buch fest, beruhe auf ihrer spezifischen Dummheit.

Ich habe den Zustand der extrem leichten Nutzung der technischen – und übrigens auch der gesellschaftlichen, politischen – Güter ironisch als Dummheit bezeichnet. Jedenfalls klafft zwischen dem begrenzten Kenntnisstand eines Durchschnittsmenschen und dem kumulierten Wissensstand der Gesellschaft eine enorme Lücke. Und das hat Auswirkungen, über die wir uns nur selten, wenn überhaupt, Gedanken machen. Wir fragen relativ wenig nach den Voraussetzungen dessen, was wir in der Gesellschaft, in der Natur vorfinden. Das nenne ich spezifische Dummheit. Der Mensch ignoriert seine Ignoranz.

Dabei war das nicht immer so. Sokrates sagte einst, er wisse, dass er nichts wisse.

Das Denken der antiken Philosophen wurde durch die Christianisierung unterbrochen. Das Gebot, die von Gott erschaffene Welt nicht zu hinterfragen und an ewige Wahrheiten zu glauben, statt selbständig zu denken, hat zum wissenschaftlichen Stillstand, zur Dummheit, geführt. Der Mensch hat aufgehört, spezifisch die Naturgeschichte zu überdenken. Über eintausend Jahre erhielt der Glaube Priorität vor dem Denken; und ich habe nie richtig verstanden, warum die christliche Theologie die Erde zum Mittelpunkt des Universums erklärt hatte. Denn Gott als metaphysische Instanz ist ja nicht davon abhängig, ob sich die Erde nun um die Sonne dreht oder die Sonne um die Erde, ob das Weltall begrenzt ist oder unendlich.

Je einfacher die Welt erscheint, desto weniger Fragen werden gestellt.

Das kann auch sein … Jedenfalls haben erst in der Renaissance um 1500 die Humanisten mit der Wiederentdeckung der antiken Schriften den religiösen Dogmatismus nach und nach durchbrochen und die moderne experimentelle Wissenschaft begründet. Die Aufklärung versuchte, durch die Erfolge des naturwissenschaftlichen Denkens beflügelt, allen Menschen den Zugang zur Wissenschaft zu öffnen. Kant postulierte, die Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Es blieb beim Versuch. Es war, glaube ich, Seneca, der gesagt hatte, dass jedes System an seiner eigenen Übertreibung zugrunde geht. Die Aufklärung hatte einen viel zu großen Anspruch. Denn die Leute, die fähig waren, zu denken, waren um 1650 eine eher dünne gesellschaftliche Schicht. Es dauerte eine Weile, bis man merkte, dass man die Anforderungen an die Gesellschaft niedriger halten und den Menschen den Wohlstand auf einem geistig weniger anspruchsvollen Tablett servieren muss ...

Soll heißen?

Es ließe sich ja vielleicht noch die primitive Technik der vorwissenschaftlichen Zeit allgemein verständlich machen, eine solche primitive „Aufklärung“ ist denkbar. Aber mit komplexeren astronomischen Rechnungen und vollends seit der von Newton benutzten Differentialrechnung war das Zeitalter der Universalgenies definitiv vorbei und man wurde auf die Arbeits- und Wissensteilung angewiesen. Und seitdem sind wir dumm. Aber wir im Westen haben einen Ausweg gefunden: Die Ergebnisse der Wissenschaft, die technischen Artefakte, so zu „verpacken“, dass ihre Bedienung eben allgemein zugänglich war. Man konnte Edisons Glühbirne nutzen, weil die Bedienung des Schalters keine Kenntnisse erfordert. Und so ging es weiter bis zum Touchscreen unserer Handys. Wir haben uns mit unserer Dummheit arrangiert, ich nenne das ironisch die Akzeptanz der Ignoranz.

Sie verwenden den Begriff der spezifischen Dummheit auch in politischer Hinsicht. Ein Zitat aus Ihrem Buch: „Die Einsicht, dass es keine vollkommene Welt gibt, übersteigt die Intelligenz des dummen Menschen.“

Ich glaube, wir alle möchten eine ideale Welt. Doch sollte man etwas bescheidener denken, wenn man Gesellschaften entwirft und gesellschaftliche Modelle. Denn zur intellektuellen Demut gehört auch die Erkenntnis, dass es eine solche ideale Welt nicht geben kann – es genügen ja schon zwei Menschen, um zwei unterschiedliche Anschauungen zu bekommen. Unsere Gesellschaft ist immer ein System, das auf Ausgleich, auf politischen Kompromissen beruht und nicht gut gesteuert werden kann. Ein so komplexes System wie die menschliche Gesellschaft muss in einem gewissen Sinne selbstkorrigierend sein: Wenn man in eine Richtung übertreibt, muss man fähig sein, das wieder zu korrigieren. Das muss man euch Österreichern ja nicht erzählen: Ihr hattet ja vor Kurzem erst Nationalratswahlen. Ein freier Markt, eine liberale Demokratie, das sind selbstkorrigierende Systeme. Diese Systeme sind zwar nicht vollkommen, man kann sie aber recht gut steuern. Während utopische Systeme wie etwa die ehemals östliche Planwirtschaft daran litten und letztlich scheiterten, dass sie unterstellten, die Menschen vollständig verstehen und beherrschen zu können.

Sprechen Sie sich deshalb so vehement gegen politische Utopisten und ihre Utopien aus?

Utopien müssen Menschen zu einem Benehmen zwingen, das zum System passt, statt das System den menschlichen Bedürfnissen entsprechend zu gestalten; den menschlichen Bedürfnissen, die sich immer wieder ändern. Man endet im Dirigismus, in einer Diktatur, in der Tyrannei. Und das ist die Gefahr aller politischen Utopien. Die Utopien der klassenlosen Gesellschaft, der absoluten sozialen Gerechtigkeit, der Rassenreinheit; allesamt endeten sie in Schrecken, in Terror – die geschichtliche Evidenz ist da nicht wegzudiskutieren. Der deutsche Soziologe Gerhard Szczesny hat einmal bemerkt, dass die größten Verbrechen der Menschheit meist aus dem überwältigenden Drang zum absolut Guten resultieren. Das Böse folgt, wenn das Gute zum Fanatismus verführt wird, und Fanatismus führt zu Verbrechen aus einer perversen Überzeugung, das ethisch Richtige und Notwendige zu tun – denken Sie etwa an den IS, den Islamischen Staat. Also, wie zuvor gesagt: Der Mensch sollte bescheidener denken, wenn er Gesellschaften entwirft.

Ein toller Satz: „Wenn die Gesellschaft die Wahrnehmung der Selbstverantwortung verlangt, so muss sie auch die Bedingungen schaffen, dass man sich um sich selbst kümmern kann.“

Das richtet sich gegen die Populisten von rechts, die konsequent Selbstverantwortung verlangen, auch dort, wo diese nicht einzulösen ist. Es ist richtig, dass jeder Mensch nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten hat. Es ist aber ebenso richtig, dass der Mensch nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte haben muss, damit er die an ihn gestellten Anforderungen überhaupt erfüllen kann. Es ist die Kunst der Politik, ein Gleichgewicht zu schaffen. Das ist nicht leicht, und dass wir je ein absolut gerechtes System finden werden, das glaube ich nicht.

Weil, wie Sie feststellen, „unsere Welt so beschaffen ist, dass sie nur Unvollkommenes erträgt“?

Ja! Realismus erfordert stets das Zufriedensein mit dem Zweit-, Drittbesten, wie Churchill mal gesagt hat. Wir haben es recht weit gebracht und sollten recht glücklich sein, auch wenn wir noch nicht das Ideale erreicht haben – einfach deshalb, weil es nicht erreicht werden kann. Doch wir weigern uns in einem gewissen Sinne, die Gesellschaft als dynamisches System der steten Änderung, der steten Verbesserung, der Veränderung der Ziele und des steten Versuchs, den Zielen möglichst nahe zu kommen, zu akzeptieren, also als etwas Dynamisches. Die Gesellschaft unvollkommener Menschen kann das Ideale, das Vollkommene nicht erreichen. Dieses Wissen würde, gerade in politischer Hinsicht, guttun.

Doch der Mensch strebt eben ständig nach Neuem …

Wir messen die Gegenwart auch kaum je an der Vergangenheit, wir messen sie an unserem nie zu befriedigenden Anspruch. Der Westen hat mit dem Ideal des Fortschritts auch Pandoras Büchse der permanenten Unzufriedenheit mit dem Bestehenden geöffnet. Wir haben das „pursuit of happiness“ zu obersten Maxime unserer Gesellschaft erhoben. Und was empfindet der Mensch als Glück? Immer das, was er noch nicht hat. Wenn er etwas erreicht, kommt verlässlich die Melancholie der Erfüllung.

Aber ist nicht die permanente Unzufriedenheit auch das, was uns antreibt? Das, was Stagnation verhindert?

Ja. Aber dann müssen Sie auch akzeptieren, dass wir eine dynamische Gesellschaft haben, dass wir uns der steten Suche nach dem Besseren verpflichten und deshalb auch nie das Gefühl haben werden, dass wir irgendwann irgendwo ankommen. Was wir gestern hatten, empfinden wir heute bereits als selbstverständlich. Das ist das Gesetz der Geringschätzung vorhandener Güter. Dabei könnte die Zufriedenheit ja vielleicht auch im Weg und nicht im Ziel allein liegen …

Sie schreiben von einer „Drucktastenzivilisation“ und vom „Prinzip der Sofortreaktion“. Was ist das eine, was das andere?

Beides sind Chiffren unserer heutigen Gesellschaft, beides hängt zusammen. Ich habe als Drucktastenzivilisation, als „Touchscreen-Gesellschaft“ unsere an die Einfachheit der Bedienung unserer Artefakte gewöhnte Welt apostrophiert und die Gewöhnung an die Sofortreaktion ist ein daraus resultierender Effekt. Fährt jemand in die Ferien, erwarten wir, binnen Sekunden einen akustischen oder schriftlichen Kontakt herstellen zu können, ein Foto von Freunden aus den Ferien zu bekommen – die effektive Gleichzeitigkeit überrascht uns nicht. Die Bedienungselemente wirken auf elektrische Verbindungen, die verzögerungsfrei reagieren. Das ist doch der realisierte Zauberstab! Die modernen Artefakte haben uns daran gewöhnt, alles sofort per Knopfdruck zu bekommen und dem Menschen auch das Gefühl gegeben, alles beherrschen zu können.

Das Wissen nimmt relativ zum Wissensstand ab und ebenso das Wissen um dieses Nichtwissen: Ist das das Fazit, ist das die Geschichte der Dummheit?

Das ist eine sehr schöne Umschreibung des von mir apostrophierten Effekts, danke Ihnen dafür! Der „wissenschaftliche“ Teil der Menschheit, die sogenannte „scientific community“, generiert Tag um Tag Wissen, das außer den jeweiligen Spezialisten kaum jemanden interessiert und von kaum jemandem verstanden wird – weil es so spezifisch, so spezialisiert, so unanschaulich ist, dass wir Durchschnittsmenschen es auch in den Umrissen einer Popularisierung nicht mehr erfassen können. Wir bleiben in unseren anschaulichen Modellen der Wirklichkeit gefangen, falls wir überhaupt über mehr als den tagtäglichen Kram nachdenken. Unser Wissen nimmt nicht zu, es nimmt vielmehr – bezogen auf das an sich verfügbare Weltwissen – immer mehr ab.

Der Einzelne darf also auf Kosten der Allgemeinheit dumm bleiben? Oder anders gefragt: Das Kollektiv kompensiert das individuelle Nichtwissen?

Das ist richtig. Intelligenz, von Individuen hervorgebracht, wird im Kollektiv gespeichert. Wir stellen das Wissen im Kollektiv bereit – und genießen seine Früchte individuell. Und es geht uns derart gut dabei, dass wir nur äußerst selten darüber nachdenken. Was es bräuchte, dringend bräuchte, wäre mehr intellektuelle Demut – um einen Ausdruck des österreichischen Nationalökonomen Friedrich A. Hayek zu verwenden.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Zur Person Emil Kowalski * 1937, Physiker, Tätigkeit in leitenden Positionen Schweizer Industrieunternehmen, unter anderem in der Elektrizitätsbranche, Mitwirkung in fachlichen und gesellschaftlichen Gremien.

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.
Dummheit