Gerald Fleisch

(* 17. 07. 1966) Geschäftsführer der Landeskrankenhaus Betriebsgesellschaft

(Foto: ©Matthias Weissengruber)

Das fatalste Unwort unserer Zeit: „Selbstverständlich“

Mai 2015

Ich möchte mich jetzt aufregen. Und zwar berechtigt. Und schreibe deshalb: Gar nichts ist selbstverständlich. Dass wir in einer seit 70 Jahren „friedlichen“ Region leben nicht. Nicht, dass wir in einem Land mit Meinungsfreiheit beheimatet sind, dass wir vergleichsweise im Luxus leben auch nicht, und auch nicht, dass wir über ein Gesundheitswesen verfügen, das jeder Frau und jedem Mann jederzeit Zugang zu medizinischen Leistungen auf hohem Niveau ermöglicht. Generationen haben dafür hart, sehr hart, gearbeitet, dass wir heute all diese vermeintlich selbstverständlichen Vorzüge genießen können (bzw. könnten, wenn wir zufriedener wären).

Es ist uns schlichtweg nicht mehr bewusst,

  • was es heißt, ohne Angst um Leib und Leben einfach das Haus verlassen zu können,
  • was es heißt, überhaupt eine Unterkunft zu haben,
  • was es heißt, genug bzw. im Überfluss zu essen zu haben,
  • was es heißt, eine derart ausgebaute öffentliche Infrastruktur zu haben,
  • was es heißt, ohne Angst so reden zu können, wie einem „dr Schnabl gwachsa ischt“,
  • was es heißt, etwa bei einem Unfall das wahrscheinlich beste Rettungs- und Gesundheitssystem der Welt sofort und rund um die Uhr zur Verfügung zu haben.

Ist das alles selbstverständlich? Nein und nochmals nein.

Wir müssen uns – und zwar alle – tagtäglich darauf aufmerksam machen, was wir und unsere Vorfahren erreicht haben, wie fragil dieser Zustand ist und wie wir für die Verteidigung dieses Zustands kämpfen müssen – und zwar mit den Waffen der Bewusstmachung und des Betroffenmachens. Im Großen wie im Kleinen. Und da muss sich jeder – und zur Wiederholung nochmals: jeder – selber an der Nase nehmen.

Nicht die anderen.

Und das ist der springende Punkt: Wir haben verlernt, selbst Verantwortung zu übernehmen. Wir sind es gewöhnt, dass andere (zum Beispiel der Staat – wer immer das ist) für uns sorgen. Wir sind es gewöhnt, vieles (eigentlich alles) als selbstverständlich zu bezeichnen.

Im Gesundheitsbereich treffe ich in meiner beruflichen Funktion oft auf die oben angeführten Verhaltensmuster. Viele vergessen, dass sie indirekt die Gesundheitsleistungen finanzieren. Viele vergessen auch, dass das Krankenhaus nur für Krankenhauspatienten da ist und die engagierten Mitarbeiter im medizinischen und pflegerischen Bereich nicht die Zeit haben, sich um nicht krankenhausspezifische Wehwehchen zu kümmern. Viele vergessen, dass sie im Grunde für den eigenen Körper und die eigene Gesundheit verantwortlich sind. Manchmal geht die Dekadenz so weit, dass das Krankenhaus für die Krankheit bzw. für die nicht gänzliche Gesundung verantwortlich gemacht wird. Selbst die Gesundheit wird mitunter schon als Selbstverständlichkeit betrachtet. Aber Krankheit und Tod sind Bestandteil unserer Existenz.

Zur Bekämpfung der Selbstverständlichkeit ein paar Vorschläge:

  • Vorschlag 1: Jede Vorarlbergerin, jeder Vorarlberger sollte verpflichtend ein Jahr im Ausland verbringen.
  • Vorschlag 2: Formulierungen wie „ma sött“, „ma künnt“ oder „eigentlich müaßt ma amol“ aus dem Vokabular streichen.
  • Vorschlag 3: Nicht über die Politik schimpfen, sondern selber gesellschaftlich aktiv werden.
  • Vorschlag 4: Immer fragen: „Was kann ich tun?“, dann erst „Was könnten andere machen?“
  • Vorschlag 5: Dankbar sein.
  • Vorschlag 6: „Selbstverständlich“ weder sagen noch denken.

Nicht selbstverständlicher Nachsatz:

Ein Dank an alle, die etwas tun (und nicht nur reden oder nichts tun oder jammern): Ehrenamtliche und Freiwillige, politisch Tätige, Angehörige aufopfernd Pflegende, Kinder Erziehende, Alleinerziehende, im Hintergrund Tätige, in Sozial- und Gesundheitsberufen Engagierte, Kümmernde ...

So. Jetzt geht es mir besser. Ich hoffe nur, dass der Text „selbst verständlich“ ist.

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