J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Ein Seeigel erzählt Geschichte

April 2017

Figurierte Steine – so nannten die Pioniere der Naturforschung die Versteinerungen. Über ihre Entstehung rankten sich die wildesten Spekulationen: Sind sie aus Samen heutiger Tiere in einer Art steinerner Gebärmutter entstanden? Sind es Überreste der Sintflut? Heute kennen wir sie als Zeugen vergangenen Lebens, und wir versuchen, ihre Geschichte zu entschlüsseln.

Unbeachtet von der Öffentlichkeit lagern im wissenschaftlichen Depot der inatura Dornbirn mehr als 25.000 Versteinerungen – zu viele, um sie auch nur im Bild der Öffentlichkeit vorstellen zu können. Sie alle auszustellen, daran wollen wir gar nicht erst denken. An den meisten wären die Besucher ohnehin nicht interessiert – sie sehen aus wie gewöhnliche Steine, etwas regelmäßiger zwar, aber nicht sonderlich attraktiv. Aus wissenschaftlicher Sicht aber sind sie hochinteressant, denn sie erzählen die Geschichte der Lebensräume, in denen die Gesteine unseres Landes entstanden sind.
Gesteinseinheiten unterschiedlichster Herkunft liegen in Vorarlberg nur wenige Kilometer voneinander entfernt. Rätikon und Lechquellengebirge sind aus geologischer Sicht Teile von Afrika. Erst die Zone zwischen Feldkirch und Dornbirn, zwischen Schoppernau und Bersbuch repräsentiert den ehemaligen Südrand Europas. In beiden Gebieten finden sich Versteinerungen, und diese berichten uns über den Wandel der Landschaft.

Eine der jüngsten Erwerbungen der inatura ist ein Seeigel. Vielleicht denken Sie nun an ein schmerzliches Erlebnis beim Baden im Mittelmeer – auf jeden Fall aber ist diese Tiergruppe untrennbar mit dem Meer verbunden. Ein normaler Salzgehalt von rund 35 Promille ist Grundvoraussetzung für ihr Gedeihen. Auch unser Exemplar stammt also aus dem Meer, einem Meer, das vor etwa 100 bis 110 Millionen Jahren (so alt ist das Fossil nämlich) den damaligen Südrand Europas bedeckt hat. Um mehr über den vergangenen Lebensraum zu erfahren, müssen wir uns die Versteinerung näher ansehen.
Seeigel werden grob in „regulär“ und „irregulär“ eingeteilt: Die regulären Arten sind mehr oder weniger rund. Sie leben auf festem, felsigem Grund, von dem sie den Bewuchs raspeln. Ihr Mund ist unten, oben liegt der Ausgang des Darms. So können Wellen und Strömung die ins Wasser entlassenen Verdauungsprodukte leicht abtransportieren. Vor hungrigen Fischen schützt sie ihr Stachelkleid. Irreguläre Seeigel hingegen leben im Sand vergraben. Starre Stacheln wären hier nur hinderlich, wenn sich das Tier auf der Suche nach Nahrung durch den Untergrund wühlt. Sie sind – bis auf unscheinbare Reste – zurückgebildet. Auch in der Anatomie unterscheiden sich die „Irregulären“ von ihren regulären Verwandten: Im Lauf der Evolution ist die Mundöffnung nach vorne gewandert, und der Anus hat seine zentrale Position auf der Oberseite verlassen. Für das grabende Tier ist es sinnvoller, seine Verdauungsprodukte hinter sich zu lassen. Fast alle irregulären Seeigel erscheinen dadurch spiegelbildlich symmetrisch und herzförmig. Offen auf felsigem Untergrund wären sie Fressfeinden schutzlos ausgeliefert, so aber sind sie an die grabende Lebensweise im Sand und Schlamm angepasst.

Beim unserem Neuzugang verstärkt eine oberflächliche Rinne das spiegelbildliche Aussehen. Er ist eindeutig ein irregulärer Gräber. Sandig ist auch das Gestein, in das er eingebettet ist. Und dieses liefert weitere Hinweise auf den Lebensraum. Heute erscheint es rostbraun – eine Folge lange andauernder Verwitterung und Zersetzung. In frischem Zustand wäre es schwarzgrün. Farbgebend ist das Mineral Glaukonit, ein Mineral, das nur im Meer entstehen kann. Grundvoraussetzung dafür ist aber, dass nur wenig anderes Material abgelagert wird. Der Seeigel selbst aber besteht aus Phosphorit. Streng genommen ist er gar kein „echtes“ Fossil, „nur“ ein Steinkern. Der chemisch stabile Phosphorit hatte den Innenraum komplett ausgefüllt. Die kalkige Schale hingegen wurde im Laufe der Zeit völlig gelöst. Auch Phosphorit kann sich nur bilden, wenn sonst fast nichts das Wasser trübt.

Blicken wir nun ein wenig über die unmittelbare Fundstelle des Fossils hinaus. Die darunterliegende, also ältere Gesteinseinheit ist ein Kalkstein. Seine Versteinerungen erzählen von Flachwasser mit Lagunen, Sandbänken und Korallenriffen. Aber all diese Bewohner seichter Meere fehlen in der Fundschicht des Seeigels. Was war geschehen? Vor rund 100 Millionen Jahren war weiter im Süden die Gebirgsbildung bereits voll im Gang. Afrika drängte nach Norden. Dadurch wurde auch der Südrand Europas in die Tiefe gedrückt – zu schnell, als dass die (bereits klimatisch geschädigte) Kalkplattform die Zunahme der Wassertiefe hätte ausgleichen können. Auf rund 200 Meter wird die Meerestiefe zu Lebzeiten unseres Seeigels geschätzt. Seine Begleiter sind die frei schwimmenden Ammoniten – im Flachwasser würden wir sie vergeblich suchen. Und auch andere Fossilien verweisen auf ruhiges, tiefes Wasser. In diesem nicht unbedingt lebensfreundlichen Milieu wurde fast nichts abgelagert. Meeresströmungen brachten zwar Sand, aber sie transportierten ihn weiter. Nur wenige Spezialisten konnten hier am Meeresgrund überleben. Gemeinsam mit den Tieren des offenen Wassers finden wir sie heute angereichert als Fossillagerstätte. Der Neuzugang des Museums gehört zu den großen Seltenheiten dieser Gesteinsschicht.

Auch wenn der Seeigel wahrscheinlich nie in der Ausstellung der inatura zu sehen sein wird – als wissenschaftlicher Beleg ist er einer der vielen Puzzleteile, die uns in ihrer Gesamtheit einen kleinen Einblick in die Vergangenheit und das Werden unseres Landes gewähren.

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