Thomas Feurstein

* 1964 in Bregenz, Studium der Germanistik und Geografie, Biblio­thekar und Leiter der Abteilung Vorarlbergensien an der Vorarlberger Landes­bibliothek seit 1998.

 

Der Geist weht, wo er will

November 2016

So lautet ein Bibelzitat (Joh. 3,8), das auf Lateinisch (Spiritus spirat, ubi vult) das Portal der Vorarlberger Landesbibliothek ziert. Hier öffnete sich bis 1980 das Tor zur Kirche St. Gallusstift, die dann in den 1990er-Jahren zum Kuppelsaal der Bibliothek umgebaut wurde. Als ich 1989 dort zu arbeiten begann, war das Team um den schon längst verstorbenen Direktor Eberhard Tiefenthaler vom Geist beseelt, im Gallusstift in einer der schönsten und modernsten Bibliotheken Österreichs tätig zu sein. Und das wohl zu Recht – ist doch bis heute das Ambiente der Landesbibliothek unvergleichlich, mit der Lage am Waldrand und dem weiten Blick über den Bodensee. Auch das bibliothekarische Konzept war für die 1980er-Jahre ausgesprochen innovativ. So wurde hier mutig das aus den USA kommende Prinzip der Freihandaufstellung konsequent umgesetzt. Im Gegensatz zur traditionellen Speicherbibliothek konnten die Benutzer die benötigten Bücher und Zeitschriften selbst direkt am Regal in Augenschein nehmen und mussten nicht langwierige Bestellungen mit Wartezeiten in Kauf nehmen. Mit Ausnahme von einigen wertvollen Büchern war so der gesamte Bestand für die Öffentlichkeit frei zugänglich. Heute muss schon mehr als die Hälfte davon in diversen verschlossenen Depots verwahrt werden. Die Vorarlberger Landesbibliothek war zudem die erste Bibliothek in Österreich, die einen ausschließlich elektronischen Katalog anbieten konnte und somit die Suchbarkeit von Inhalten entscheidend verbesserte. Da die Bibliothek nach ihrer Gründung bis zum Umzug ins Gallusstift in sehr beengten Verhältnissen gemeinsam mit dem Landesarchiv in der Bregenzer Kirchstraße untergebracht war, wurden beim Umzug keine Kosten und Mühen gescheut, um der rasch anwachsenden Leserschar eine moderne Infrastruktur anzubieten. Es wurden damals immerhin 130 Millionen Schilling in das Gallusstift investiert, um Vorarlberg mit einem modernen Informationszentrum auszustatten und damit auch den Wirtschaftsstandort zu stärken.

Abgesehen vom Umbau der Stiftskirche zum Bibliotheksraum in den 1990er-Jahren wurde im öffentlichen Bereich die vorhandene Infrastruktur zwar vorbildlich gewartet, Ausbauten oder Anpassungen an geänderte Rahmenbedingungen (Benutzerverhalten, digitale Medien) blieben aber aus. Wie im Gesundheits- oder Verkehrswesen blieb die Entwicklung aber auch in der Bibliothekswelt nicht stehen: In ganz Europa und besonders in den nordeuropäischen Staaten entstehen neue Bibliotheken, die neben ihrer Funktion der Bereitstellung und Speicherung von Wissen mehr und mehr zu Orten der Begegnung in einer zunehmend digitalen Welt werden. In jüngster Zeit nutzen auch Studenten und Schüler Bibliotheken zunehmend als Lern- und Aufenthaltsort, da sie nur hier alle Informationsquellen vorfinden, die effizientes Studieren ermöglichen. Im Idealfall kommt noch eine inspirierende Atmosphäre hinzu, die zum konzentrierten Lernen anregt. Auch die Vorarlberger Landesbibliothek engagiert sich trotz fehlender Infrastruktur in der Ausbildung von Schülern, die hier die nötigen Informationen für ihre Vorwissenschaftliche Arbeit im Rahmen der neuen Matura finden. In Seminaren erlernen pro Jahr 2000 Kursteilnehmer Grundlagen der Informationskompetenz sowie die themenspezifische Recherche, unerlässliche Fertigkeiten für ein späteres Studium an einer akademischen Einrichtung. Dafür ist aber entsprechende Infrastruktur (Seminarräume, Lesesäle, Gruppenarbeitsräume und vor allem gut ausgestattete Einzelarbeitsplätze) notwendig, die das veränderte Lernverhalten unterstützt.

Zur primitivsten Grundausstattung einer Bibliothek gehören Räume, die zum einen eine rasche Verfügbarkeit benötigter Literatur gewährleisten und zum anderen die absolute Sicherheit vor Umwelteinflüssen bieten, um das in Jahrzehnten angesammelte Bildungs- und Kulturgut entsprechend schützen zu können. Auch bei zunehmender Digitalisierung verfügt jede Bibliothek auf ihrem Areal über weitläufige Speicher, die Bücher und Zeitschriften aufnehmen können. Im Hausdepot der Landesbibliothek befinden sind einerseits wissenschaftliche Standardwerke, die in der Freihandaufstellung schon länger keinen Platz mehr finden, und andererseits die Vorarlberg betreffenden Druckwerke, die nirgendwo sonst in dieser Vollständigkeit verzeichnet sind. Aufgrund dieser Einmaligkeit zählen sie zum Vorarlberger Kulturerbe und hätten sich daher einen sicheren Platz verdient, wo sie vor Wasser und Feuer geschützt sind.

In Vorarlberg ist dies allerdings keine Selbstverständlichkeit mehr, wie es der aktuelle Wassereinbruch in das Hausdepot der Landesbibliothek verdeutlicht. Der betroffene Raum war bereits vor einigen Jahren nach einem Schlagregen überflutet, und die damals eingeleitete Sanierung konnte offensichtlich eine neuerliche Überschwemmung nicht verhindern. Mögliche Ausweichflächen wie das bestehende Außendepot erfüllen die Sicherheitsanforderungen der Bibliothek ebenfalls nicht, da auch dort schon massiv Wasser eingedrungen ist und das baufällige Areal zudem bald ganz abgerissen werden muss.

Ohne den Geist der 1980er-Jahre, der die politischen Entscheidungsträger noch fest davon überzeugt sein ließ, dass Investitionen in ein leistungsfähiges Informationszentrum auch Investitionen in die Zukunft des Landes sind, wird die Landesbibliothek sukzessive ihre Aufgaben immer weniger erfüllen können. 30 Jahre ohne bauliche Veränderungen hinterlassen bei mir das wehmütige Gefühl, dass sie auch heute noch für viele Wissbegierige ein attraktiver Ort ist, an dem das vorhandene Potenzial aber bei Weitem nicht mehr ausgeschöpft werden kann. Leider überzeugten unzählige Strategiepapiere, Konzepte und langwierige Diskussionen bisher keinen der Entscheidungsträger davon, dass eine zeitgemäße Landesbibliothek als moderne Bildungseinrichtung für das Land Vorarlberg genauso notwendig ist wie neue Straßen, Tunnel, Krankenhäuser, Sportstätten oder Schulen.

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