Gerald A. Matt

Kunstmanager, Publizist und Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst Wien

Der immerwährende Sonnenuntergang oder ein Plädoyer eines Krawattenträgers für mehr Mut zum Halsschmuck

Oktober 2014

„A well tied tie is the first serious step in life.“ Oskar Wilde

Anlässlich eines Wiener Abendessens und der saloppen Aufmachung manchen Gastes erzählte mir der Krawattenfetischist und US-Regiestar Michael Scorsese, dass er den Charakter eines Menschen nach der Krawatte beurteile, die er trage. Auf meine Frage, was denn sei, wenn einer keine Krawatte trage, lautete seine Anwort: ,,Dann hat er auch keinen Charakter.“ Eine zynische, aber gleichwohl erfrischende Anmerkung in Zeiten einer global grassierenden Tyrannei der offenen Kragen und T-Shirts.

Balzac stellte bereits 1830 in seinem „Traité de la vie elegante“, den Theorien Galls und Lavaters folgend, einen Bezug zwischen Kleidung und Charakter fest und widmete sich in „Seize leçons“ der „L’art de mettre sa cravatte“. Der Dichter Lord Byron gar soll schlaflose Nächte damit zugebracht haben, sein Halstuch so perfekt und faltenlos zu binden wie der von ihm so bewunderte arbiter elegantiarium Beau Brummell. Der Poet Baudelaire pflegte seine Haare den Farbnuancen seiner Krawatte entsprechend zu färben.

Auch heute fordert der Krawattenträger mit seinem sichtbaren Halsschmuck und dem zugehörigen Anzug zunehmend eine Gesellschaft heraus, die im Schlepptau der mittlerweile ranzigen 68er und von grünen Ökospießern alles Ästhetische, Zwecklose, Unvernünftige und mit Konventionen Verbundene unter ideologisch-moralischen Generalverdacht gestellt haben. Dabei befinden sie sich im seltsamen Bündnis mit einer Industrie, die ihre meist unter miserablen Ausbeutungsverhältnissen produzierte Wegwerfkleidung einer Gesellschaft braver, pensionsgesicherter Dienstleister mittels einer durch und durch kommerzialisierten Popkultur als persönlichen Befreiungs- und Unabhängigkeitsakt hochprofitabel verkauft.

Allerorten, auch in Vorarlberg – wie ich jetzt wieder bei Veranstaltungen der Bregenzer Festspiele feststellen musste –, scheint die Krawatte in Verruf geraten zu sein. Konnte man bis vor geraumer Zeit auf großen Kulturevents ausschließlich in festlicher Kleidung auftreten, so empfindet man sich heute mit Anzug oder Krawatte, von Black tie ganz zu schweigen, nicht selten als absonderlicher Vertreter einer aussterbenden Spezies. War zu meiner Zeit ein Gymnasiallehrer ohne Krawatte schlichtweg unvorstellbar, so würde ein Anzug- und Krawattenträger heute unter T- und Sweatshirt tragenden Lehrern geradezu provozieren. Trägt man eine Krawatte zu einer Einladung zum privaten Dinner, fühlt sich der Gastgeber unweigerlich zur Aufforderung bemüßigt, man möge sich dieser Förmlichkeit doch zwanglos entledigen.

Zunehmend werden Krawattentrager als Fossil einer autoritären, bleiernen Zeit diskreditiert. Dass die Ablehnung der Krawatte jedoch einhergeht mit einem zunehmenden Verlust von Höflichkeit und gesellschaftlichen Konventionen sowie der Ablehnung von schönen Dingen, scheint niemandem aufzufallen. Wer heute gegen den Mainstream aufbegehren will, der trägt Krawatte.

Denn die Verweigerung des Krawattenästheten gegenüber einer Welt des Puritanismus, der Natur- und Natürlichkeitsromantik und rigider Nützlichkeitszwänge gipfelt in einer „Metaphysik der Provokation“, wie das Walter Benjamin schon in Bezug auf Baudelaire festhielt. Und so ist es heute mehr Provokation, mit Anzug und Krawatte in entsprechenden Lebenslagen aufzutreten, als im Sommer fast vollständig entkleidet, in kurzen Hosen und Slippers, unsere Innenstädte und deren Gotteshäuser mit Badeanstalten zu verwechseln.

Wenn etwa der Ästhet Baron de Montesquiou, Vorbild für Marcel Proust und seinen Baron Charlus, andachtsvolle Stunden mit der seinen seelischen Stimmungen folgenden Auswahl seiner Krawatten zubrachte, dann verbarg sich hinter dieser Ankleidungspraxis dieselbe verachtende Herausforderung für eine immer mehr zweckorientierte Zeit wie in der Haltung Oskar Wildes, der auf Befragen nach seiner Tagesbeschäftigung einmal erklärte, er habe den ganzen Morgen mit der Durchsicht seiner Gedichte zugebracht und schließlich ein Komma herausgenommen, und gegen Abend habe er es wieder eingesetzt.

So unnatürlich die Krawatte den Hals zwischen Körper und Kopf einschnürt, so sehr spiegelt sie diese Haltung des Ästheten wider.

Voller Hingabe für den schönen Gegenstand, voller Verehrung für die vollendete Form führten Ästheten wie Huysmans, Pater oder d’Annunzio und heute Woolfe, Talese oder McDermott/McGough ihren aussichtslosen Kampf gegen eine reine Funktionalität und Banalität des Seins. Die Krawatte wird für sie zum Code für die Vergeblichkeit des Ringens um Autonomie und Selbstbestimmung. Sie bleibt eines der letzten Accessoires männlicher Schönheit und Raffinements in Zeiten totalitärer Gleichmacherei, selbstgerechter calvinistisch-alternativer Tugendbolde und einfältiger marketinggesteuerter Bequemlichkeits- und Freizeitfanatiker – ein „letzter Akt des Heroismus in Zeiten des Verfalls“, ein „immerwährender Sonnenuntergang“, wie Baudelaire das Schicksal des Ästheten melancholisch bedauerte.

Als Krawattentrager und -sammler darf ich Gleichgesinnten frei nach Camus Mut wünschen: „Wenn Ästheten sich nicht umbringen oder verrückt werden, machen sie Karriere. Die Krawatte freilich bleibt ein für beiderlei Zwecke vortrefflich geeignetes Mittel.“

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.