Gerald A. Matt

Kunstmanager, Publizist und Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst Wien

Die Magie der Mechanik

Februar 2015

Was lässt den Uhrensammler ticken? Gerald Matt, selbst passionierter Sammler historischer Uhren, bricht diesmal eine Lanze für die klassische Armbanduhr. Nicht Präzision, sondern Charme und Geschichte bringen die Zeitmesser in die Vitrine – und ans Handgelenk. Eine kleine kulturhistorische Betrachtung.

Was in einer Fachzeitschrift 1917 noch als geradezu obszöne Modetorheit ausgewiesen wurde – „das Tragen einer Uhr an der unruhigsten und den größten Temperaturschwankungen ausgesetzten Körperstelle“ –, wird heute bestenfalls durch deren Abwesenheit bemerkt: die Armbanduhr. Standen in der Schweizer Exportstatistik 1930 6,2 Millionen Taschenuhren noch gleich vielen Armbanduhren gegenüber, so wurden 1934 bereits doppelt so viele Armbanduhren exportiert. Die Uhr war den Menschen endgültig vom Wams auf den Leib gerückt. Die Armbanduhr ist heute, abgesehen vom Herzschrittmacher und vom Mobiltelefon, das körpernächste und unentbehrlichste technische Gerät. Ihre technologische Revolution entwickelte sich so stürmisch, dass heute schon die elektromagnetischen Armbanduhren der 60er-Jahre (zum Beispiel die amerikanische Hamilton) Objekte der etwa hundertjährigen Sammlergeschichte geworden sind.

Die frühe Vorstellung, die Armbanduhr sei als ein schlichtes Accessoire der Damenmode nichts für den „ganzen Mann“, ging einher mit der anfangs berechtigten Skepsis der Taschenuhrträger hinsichtlich ihrer technischen Zuverlässigkeit und Alltagstauglichkeit. In den Jahren 1920 bis 1930 – eine für den Sammler besonders reizvolle Experimentierphase – konnten jedoch die elementaren Probleme auf dem Weg von der Taschenuhr zur Armbanduhr wie Magnetismus, Stoßsicherheit, Laufgenauigkeit, Wasserdichtigkeit gelöst werden. Der hundertste Teil eines Millimeters wurde plötzlich zur neuen Herausforderung für den Uhrmacher.

In den 20er-Jahren erschien die erste Automatikarmbanduhr nach dem „Harwood system“, die als eine Art Perpetuum mobile der Zeitmessung besonders faszinierte. Dabei machte sich der gewiefte Techniker lediglich den Umstand zunutze, dass der Mensch je nach Tätigkeit und Temperament seinen linken Arm siebentausend bis vierzigtausend Mal pro Tag bewegt.

Auch wenn Quarzuhren mit Gangabweichungen von fünf Sekunden im Monat die Genauigkeitswerte der mechanischen Uhr pulverisierten, konnten sie nie jene Qualität des Handwerks, jene Schönheit der Zahnradästhetik oder die Komplexität des Materials und der Laufprozesse einer mechanischen Uhr erreichen. Die Frage, ob die Armbanduhr mit Beginn der Quarzära oder gar mit dem Mobiltelefon ihre Attraktivität eingebüßt hat, stellt sich für den Uhrenafficionado und Sammler ohnehin nicht. Die Magie der mechanischen Uhr ist jedenfalls einer Quarzuhr völlig fremd.

Wie sich Liebe auf den ersten Blick nicht nur am perfekt funktionierenden Innenleben des Anderen entzündet, wird auch der Uhrensammler zuerst vom Antlitz der Uhr, ihrem Ziffernblatt und dem Gehäuse, in den Bann gezogen. Ahmten Anfang 1910 die Armbanduhren noch die Form der kleinen runden Taschenuhren nach, so emanzipierten sie sich bereits Mitte der 20er-Jahre klar durch schlichtere, ruhigere Formen mit einer Tendenz zum Rechteck. In den 30er-Jahren wurden bereits Zahlen auf dem Ziffernblatt durch Striche ersetzt. Besonders en vogue war etwa die Trennung von Hauptziffernblatt und Sekundenanzeiger bzw. die Digitalanzeige. In den Wirtschaftswunderjahren fanden schließlich schlichte runde Formen mit großem Ziffernblatt Zuspruch, bei denen die Materialien vom klassischen Email über Silber und Gold bis zu Rhodium und Lapislazuli reichten.

Edeluhren waren meist in Gold oder zumindest Golddoublé gehüllt. Silber hingegen oxidiert ins Schwarze und wurde als Material für Uhrengehäuse schon früh von Chrom und rostfreiem Edelstahl verdrängt.

In der Regel, deren Ausnahme wie immer selbige bestätigt, lässt ein edles Gehäuse und Ziffernblatt auch auf einen hochwertigen mechanischen Teil schließen, es sei denn, die Uhr wurde etwa als Bargain bei findigen Verkäufern auf den Flohmärkten dieser Welt von San Telmo in Buenos Aires bis zum 23rd street market in New York zu einem Traumpreis erworben. Das spätere Öffnen der Uhr führte so zu manch unseliger Überraschung. Manipulationen dieser Art wurden umso interessanter, als Ende der 70er-Jahre das Sammeln alter Uhren schick wurde. Die antike Armbanduhr wanderte aus dem Schaukasten, wo sie als collector’s item unter den entrückten Blicken skurriler Sammler ein beschauliches Prinzendasein geführt hatte, wiederum zurück auf dynamische Handgelenke, insbesondere einer Lifestyle-bewussten Yuppiegeneration.

Waren es bisher die Stars unter den Uhren gewesen, Marken wie Omega, Patek-Philipe, Jaeger-Le Coultre, IWC, Rolex und Movado, deren Mythos eine entsprechende Aura unter der Manschette schuf, so wurden nun auch bisher wenig beachtete Massenfabrikate der Nachkriegszeit von der Preishausse erfasst. Vervielfachten sich etwa die Preise bei Uhren wie der Rolex Prince auf den internationalen Auktionsmärkten seit den 1980er-Jahren , so reflektieren auch die überzogenen Preise für billige Gebrauchsarmbanduhren der 50er- und 60er-Jahre etwa auf dem Wiener Flohmarkt diesen anhaltenden Trend. Wenn inzwischen selbst von ihrem Material und Erzeugungsprozess her belanglose Billiguhren (Swatch) Sammlerinteresse gewinnen, haben die postmodernen Musealisierungszwänge bereits das Handgelenk zur Vitrine.

Es wäre ein Irrtum, zu glauben, dem wahren Sammler alter Uhren wäre es um die Präzision der Zeitmessung zu schaffen. Was ihn verzaubert, ist der Wille zur mechanischen Perfektion, die vergebliche Heroik des mechanischen Kampfes um Genauigkeit, die Aura der Technik und Geschichte einer Armbanduhr. Aufschriften auf der Rückseite alter Uhren wie etwa „With love from Paris to Berlin, Christmas 1936“ – neulich auf einer alten Doxa gesehen – versetzen ihn in wohlige Melancholie. Stolz präsentiert er seinen Kollegen eine Vacheron et Constantin aus dem Jahre 1955, eine mit 1,64 Millimeter Tiefe superflache und kleine Armbanduhr, Ausdruck einer Art Gigantomanie im Miniaturischen.

Der Uhrensammler führt seine Uhr auch gerne stilgerecht aus. Ein Club spleeniger Briten in London etwa verlässt ohne dazu passendes Outfit nicht das Haus. So macht sich eine Mediostar von Tissot (1947) hervorragend zum breitschultrigen und taillierten Sakko, weiten Hosenbeinen und geometrisch dekorierter American tie. Die Obsession des Uhrensammlers nimmt, wenn er voller Gier auf fremder Leute Handgelenke stiert, nicht selten bedrohliche Formen an. Erst mit dem Zurechtrücken der Hemdmanschetten lässt sich die hypnotische Fixierung der Uhrensammleraugen wieder lösen.

Jede Zeit hat ihr Zeitbewusstsein, das sich auch in einer zeitgemäßen Art der Zeitmessung niederschlägt. Wie die Armbanduhr in ihrer Technik und Form den jeweiligen Zeitgeist aufzeigt, ist bei René Ehni in seinem 1967 erschienenen Buch „Vivisektion“ nachzulesen: „Gegen Ende der Saison hatten sie alle ihre Audemar-Piguet …, das war witzig und brillant und nur für sie bestimmt. Dieser Sommer war also der Sommer der Audemar-Piguets …“

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