Herbert Motter

„In jeder Figur steckt etwas von mir“

Februar 2017

Der österreichische Schriftsteller Peter Turrini (72) spricht im Interview mit „Thema Vorarlberg“ über veränderte Aufgaben des Theaters, die politische Verantwortung von Literatur, über den schizophrenen, aber höchst vergnüglichen Vorgang des Schreibens, und darüber, dass digitale Kommunikation automatisch eine „Deppensprache“ nach sich zieht.

Herr Turrini, Sie schreiben seit über 40 Jahren Werke. Was ist anders geworden seit damals?

Ein Schreibender bin ich seit mehr als 50 Jahren und als ich damit begann, war die Welt eine andere. Im sogenannte Wiederaufbau, der postfaschistischen Zeit, sollten keine Fragen gestellt werden, schon gar nicht nach der soeben zu Ende gegangenen blutigen Vergangenheit. Unser Theater von damals war sowohl ästhetisch als auch inhaltlich ein Aufschrei, ein Randalieren gegenüber schweigenden Eltern und einer schweigenden Politik. Über die Grauen des Krieges wurde der Vorhang des Tourismus, der Idylle gebreitet. Wir haben uns redlich angestrengt, diesen Vorhang in Frage zu stellen, ja zu zerreißen. Verdecktes und Verdrängtes sollte ins Bühnenlicht gerückt werden. Heute leben wir in einer völlig anderen Gesellschaft. Alles gelangt an die Öffentlichkeit, der Mensch ist durchleuchtet bis ins Allerprivateste, und vielleicht muss man unter diesen geänderten Bedingungen eine Dramaturgie des Schutzes entwickeln. Vielleicht ist nicht die Enthüllung, sondern die Verhüllung der allerhumanste Dienst, den man derzeit dem Menschen angedeihen lassen kann. Auch am Theater.

In Ihrem Buch „Liebe Mörder“ von 1996 wünschen Sie sich ein Theater der fortgesetzten Geschmacklosigkeit. Haben sich die Aufgaben des Theaters in diesen Jahren verändert?

Ja, sie haben sich verändert und ich bringe noch ein Indiz dafür. Ich bin in einer sexuell extrem repressiven Gesellschaft aufgewachsen, einer scheinheilig katholischen Gesellschaft der Nachkriegszeit. Alles Sexuelle war verpönt und inzwischen ist es genau umgekehrt: Das Allerintimste des Menschen ist zur Ware mutiert, nichts bleibt vor den Augen einer vollkommen enttabuisierten Gesellschaft verborgen. In der Seele sind wir Krüppel, in der Liebe unfähig, aber im Voyeurismus sind wir Weltmeister.

,Theater muss das Schreckliche zeigen, um uns davor zu bewahren‘, waren einmal ihre Worte ...

Ich weiß nicht, ob dieser Satz heute noch stimmt, für mich war er im höchsten Maße gültig. In dem Nachkriegsdorf, in dem ich aufgewachsen bin, geschahen die merkwürdigsten Dinge: Leute erhängten sich, Bauern erschossen sich mit dem Schlachtschussapparat und darüber durfte nicht geredet werden. Der Schrecken war spürbar und machte mir Angst. Auch wenn ich meine Mutter fragte, was denn hier passiert sei, schwieg sie. Ich malte mir Dinge aus, schreckliche Dinge, um den Schrecken beziehungsweise meine Angst zu bannen.

Fürchten Sie um das Theater in unserem Land?

Wenn jemand das Theater bedroht, dann sind es derzeit die Theaterleute selbst. Wenn man immer mehr Filme und Romane auf die Bühne bringt, dann schwänzt man das Eigentliche, die selbstständige ästhetische Form des Theaters. Man verbindet sich mit anderen ästhetischen Kategorien und löst das Theater auf. Ich verstehe diese selbstmörderische Sucht nicht.

Sie haben im Vorarlberger Landestheater einmal gesagt, dass der Ekel vor der politischen Situation Sie zum Schreiben eines Stückes bringt. Die politische Misere ist damit der Stoff, aus dem Literatur wird ...

Sofern sich die politische Misere mit der menschlichen verbindet, ja. Ich bin kein theatralischer Aufarbeiter der laufenden Politik. Aber dort, wo Politik beginnt Menschen zu zerstören, schaue ich genauer hin und versuche daraus theatralische Geschichten zu machen. Mein Stück „Die Minderleister“ beispielsweise spielt in einem Stahlwerk und erzählt von Stahlarbeitern, die entlassen werden. Das Ganze wurde mit dem politischen Begriff des Strukturwandels bemäntelt. Mich interessierten damals die Schicksale der Entlassenen, das Überflüssigwerden von Menschen.

Damit sind Ihre Stücke auch eine Art Abrechnung mit den Unzulänglichkeiten und der Verbitterung in unserem Land.

Ich versuche, mit meinen literarischen Mitteln etwas Wahres über Menschen zu erzählen, aber ich rechne mit niemandem ab. Ein Dramatiker, der sich zum Richter über seine Figuren aufspielt, hat seinen Beruf verfehlt. Natürlich habe ich meine persönlichen Leidenschaften, meine Haltung für oder gegen etwas. Aber selbst der mieseste Strolch soll so geschildert werden, dass man noch den menschlichen Funken in ihm spürt, auch wenn er im Verglühen ist.

Beim Lesen Ihres brandneuen Stückes „Fremdenzimmer“ werden einem Sehnsüchte, Ängste und die Einsamkeit gescheiterter Seelen schonungslos vor Augen geführt. Und auch hier geht es um das Verlorene im Zwischenmenschlichen.

Es ist der Stoff der Dramatik. Sie dürfen ja nicht vergessen, dass im Theater reale Menschen auf die Bühne kommen, Schauspieler zwar, aber immer werden die Konflikte der Menschen in eineinhalb Stunden abgehandelt. Beim Roman läuft das ganz anders, der Leser konsumiert ihn nach seinen eigenen Zeitempfindungen. Aber im Theater muss in dieser kurzen vorgegebenen Zeit die Seele und das Gemüt des Zuschauers berührt werden, vielleicht auch sein Sinn für Widerstand geschürt werden. Da hat das Epische keinen Platz, sondern das Menschliche prallt aufeinander.

Durch die Flüchtlings-Situation arbeitet Österreich wieder einmal an seinem Selbstverständnis. Was läuft falsch?

Die derzeit laufende Debatte wird für mich von Tag zu Tag unerträglicher. Politiker überbieten sich gegenseitig mit ihren Vorschlägen, wie sie die Flüchtlinge, die ohnehin durch ihre Situation benachteiligt sind, noch mehr benachteiligen könnten. Der Innenminister schlägt Anhaltelager für Flüchtlinge an der Grenze vor und auf die Frage, ob sie sich dort bewegen dürften, sagt er: „Ja, in eine Richtung, wieder nach Hause.“ Zu Unbarmherzigkeit gesellt sich dann noch der Zynismus.

Das gibt der Literatur eine politische beziehungsweise gesellschaftspolitische Verantwortung.

Ich glaube, dass die Literatur alles darf und nichts muss. Sie ist ein Ort der Freiheit und die Künstler nützen diese Freiheit auf unterschiedlichste Weise. Ich persönlich kann mir das Stückeschreiben nicht ohne Bezug auf die politischen und gesellschaftlichen Vorkommnisse vorstellen. Sie sind der Haken, der mich schmerzt und herausfordert. Aber ich akzeptiere es, wenn sich andere Schreibende von ganz anderen Dingen herausgefordert fühlen.

Würde Sie ein Bundeskanzler Strache schockieren?

Was mich schockiert, ist die Tatsache, dass so viele Österreicher auf die intellektuelle und sprachliche Mittelmäßigkeit dieses Herrn hereinfallen.

Haben Sie einen Wunsch für das aktuelle Österreich?

Ich wünsche mir die flächendeckende Erkenntnis, dass das Niedertreten von Schwächeren einen nicht erhöht, sondern nur hässlicher macht.

Sie haben sich einmal als Moralist bezeichnet. Wie leben Sie mit all den unmoralischen Abgründen, die Sie beschreiben?

Ich beschreibe ja nicht nur die Abgründe der anderen, sondern auch meine eigenen. Eine Literatur, die in ihrer Kritik vor der eigenen Person haltmachen würde, verwirkt den Anspruch von Kunst. Es steckt ja in jeder meiner Figuren auch ein Stück von mir selbst.

Können Sie am Ende des Tages davon loslassen?

Nein. In der Intensivphase des Schreibens habe ich etwas von einem Verrückten. Ich rede mit meinen Figuren, ich gehe mit ihnen zu Bett und wache mit ihnen auf. Sie nehmen, obwohl sie nur erfunden sind, so viel Gestalt an, dass die realen Menschen um mich herum in den Hintergrund geraten. Das ist für Menschen, die mir nahestehen, nicht so einfach.

Eines Ihrer Gedichte lautet: „Stückeschreiben ist ein interessanter Vorgang. Man versteckt sich hinter den anderen und verweist auf deren Unglück. Bis das Spiel aus ist.“ Das bedeutet, auch ein Peter Turrini versteckt sich hinter jemandem.

Ich habe es schon vorhin gesagt: In jeder Figur steckt etwas von mir. Oder anders ausgedrückt: Ich löse mich in mehrere oder gar viele Figuren auf. Ein schizophrener, aber auch höchst vergnüglicher Vorgang. Wenn es mir psychisch sehr schlecht geht, dann endet dieses Spiel. Ich kann nur noch Gedichte schreiben, stehe mit dem Gesicht an der Wand und starre in einen Spiegel. Dann ist mir nur die „Ich-Form“ des Gedichtes gegeben und ich bin froh, wenn ich wieder ein Stück schreiben und Verstecken spielen kann.

Sie gelten als Verfechter einer Gegenwartsliteratur. Was können Sie Jungautoren mit auf den Weg geben?

Sie sollen um Himmels willen nicht allzu lange studieren oder gar auf eine Dichterschule gehen. Es gibt nur einen Lehrplatz und der ist das Leben. Am besten sind möglichst viele Katastrophen und Unglücke, das fördert die Begabung.

Orten Sie manchmal einen sprachlichen Generationenkonflikt?

Natürlich. Manchmal habe ich das Gefühl, die Sprache wird buchstäblich zerschlagen und es bleiben nur noch „Trümmerchen“ übrig. Aber ich will gegenüber den jungen Leuten nicht moralisieren, es hat viel mehr mit der technischen Entwicklung zu tun: Die digitale Kommunikation zieht automatisch eine „Deppensprache“ nach sich. Ich klammere mich wie ein lächerlich gewordener Hagestolz an meiner mechanischen Schreibmaschine fest.

Theaterstücke sind immer der Eigenwilligkeit der Regie ausgesetzt. Ein erträglicher Umstand?

Es liegt in der Natur der Sache, dass es zur Karambolage kommt. Ich sitze ein Jahr lang in meinem Schreibzimmer und denke mir nicht nur die Sprache, sondern auch die Inszenierung mit aus – und natürlich haben Regisseure und Schauspieler ihren eigenen fantasievollen Kopf. Wenn ich das erste Mal einen „Durchlaufer“ eines neuen Stückes sehe, bin ich zumeist geschockt. Früher bin ich jammernd aus dem Theater geeilt und habe mich gefragt, warum die nicht so machen, wie ich es mir vorstelle. Inzwischen habe ich folgende Lösung gefunden: Ich gehe für eine halbe Stunde in die Kantine, trinke zwei bis drei Whisky, gehe wieder zurück zur Probe und schaue mir in Ruhe das Ergebnis an. Zumeist entdecke ich, dass die Bühnenfantasien der anderen kein Diebstahl, sondern eine Bereicherung sind. Ich sage Ihnen ein praktisches Beispiel dafür: Mein Stück „Josef und Maria“ enthält in der Originalfassung einige Regiebemerkungen, die bei der Aufführung hier in Bregenz am Vorarlberger Landestheater alle nicht berücksichtigt wurden. Statt einem Verkaufsraum gab es riesige Kugeln und auf dem Boden lag Kunstschnee. Es ist eine wunderbare, poetische Aufführung und ich bin seitdem ein Fan des Regisseurs Alexander Kubelka.

Was erhofft sich ein Autor abseits vom täglichen Brot von seinen Werken?

Zwei Dinge. Erstens hoffe ich, dass auf dem täglichen Brot ab und zu ein Wurstblattl liegt und zweitens hege ich den frommen Wunsch, dass die Literatur für immer mehr Menschen eine Notwendigkeit darstellt, sozusagen überlebensnotwendig wird.

Sie sind immer wieder in Vorarlberg. Ist es für Sie denn typisch österreichisch?

Nein. Das Schönste, das man über die Vorarlberger sagen kann, ist, dass sie eine Mischkulanz aus allem Möglichen sind. Den reinrassigen Vorarlberger gibt es ja gar nicht. Wenn, dann ist der Vorarlberger ein Schäferhund mit umgehängter Kuhglocke.

Vielen Dank für das Gespräch!

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