Gerald A. Matt

Kunstmanager, Publizist und Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst Wien

„Letzte Lockerung“

November 2015

Diesmal lege ich Ihnen eines meiner Lieblingsbücher ans Herz: „Letzte Lockerung, oder ein Handbrevier für Hochstapler oder solche, die es werden wollen.“ Das legendäre dadaistische Manifest von Walter Serner ist eine ebenso zynische wie hochvergnügliche Absage an die Werte einer durch die Gräuel des ersten Weltkriegs diskreditierten bürgerlichen Gesellschaft und gleichzeitig ein Plädoyer für ein von gesellschaftlichen Konventionen befreites Leben voller Abenteuer und Über­raschungen, ein Buch, in dem die Welt Kopf steht, ein Hund eine Hängematte ist, Weltanschauungen Vokabelmischungen sind und an dessen Ende Serner dem Kosmos einen Tritt verpasst.

Bekleidet mit einer dunklen Nadelstreifenhose, tadellos gebürstetem schwarzen Jackett, weißem Stehkragen und einer grauen Seidenkrawatte allererster Suggestivität war der stets Monokel und Spazierstock tragende Serner eine auffallende Erscheinung im Zürich der Exilanten und Kriegsgegner des ersten Weltkrieges. Unübersehbar promenierte er zwischen Café Odeon und Cabaret Voltaire. Geheimratsecken, tiefschwarzes Haar und stechend dunkle Augen verliehen ihm eine dämonische Kraft, und seine Aperçus und elegant zynischen und unterkühlten Einlassungen machten ihm so manche Dame gefügig. Er galt als Gentleman mit abgetragenem Ruf, der die Nacht dem Tag und die Demi-monde und die Unterwelt der achtbaren bürgerlichen Gesellschaft vorzog. So postulierte er: „Schon an Vormittagen auf den Terrassen der Cafés tanzen, in vornehmen Restaurants plötzlich ordinäre Lieder singen, ausnahmslos lügen, die Lügen widerrufen, aber sogleich den Widerruf, seine letzte Viertelstunde und seine letzte Silbe … das alles, meine Gnädigste, kann einem etwas bedeuten.“ Über seine Anfänge in Berlin konstatierte er, dass er sich zwei Wochen langweilte, weil er nachts schlief. „Als ich es umgekehrt hielt, amüsierte ich mich drei Jahre lang.“ Die Helden seiner Kriminalgeschichten, die so absurde Titel tragen wie „Der Pfiff um die Ecke“ oder „Der elfte Finger“, sind Spieler, Wüstlinge, Doppelagenten, Trickbetrüger, Zuhälter, Prostituierte, Filous, billige Schlampen, kleine Ganoven und anämische Morphinisten, die Serner allemal sympathischer waren als betende Kriegstreiber und ideologische Phrasendrescher.

Im letzten Kriegsjahr 1918 beendet Serner seinen berühmtesten Text, sein dadaistisches Manifest „Letzte Lockerung“, eine subversive und zynische Suada gegen die schamlose Verlogenheit und dumme Selbst­idealisierung von „Gott und Welt“. Am Beginn des Buches empfiehlt Serner dem Leser zur literarischen Einstimmung den Besuch eines Restaurants und den Genuss eines mehrgängigen Menüs samt Rauchwaren. Die nachfolgende Lektüre legt er nur als Notlösung beim Ausbleiben eines erotischen Abenteuers nahe. Serner erweist sich mit „Letzte Lockerung“ als sprachmächtiger Provokateur, der niemanden, nicht einmal sich selbst, schont, wenn er schreibt: „Die letzte Enttäuschung? Wenn die Illusion, illusionsfrei zu sein, als solche sich herausstellt.“ 1927 folgt der zweite Teil des Buches, seine praktischen Handlungsanleitungen für Hochstapler. Serner, „Dr. iuris utriusque“, Schriftsteller, Dadaist, Dandy, Bonvivant, Abenteurer und Bürgerschreck, kredenzt in mehreren Hundert Leitsätzen dem modernen Amoralisten geistige Feuerwerke allerfeinster Zynismen. Sein Handbrevier dekretiert in einigen Hundert Leitsätzen, worüber man als Weltbürger tunlichst im Bilde sein sollte: Instinkte und Manieren, Reisen und Hotels, Frauen und Männer, Gott und die Halbwelt. Merksätze wie jener, dass man auf seine Bügelfalte großen Wert legen solle, aber alles tun solle, um das Gegenteil zu beweisen, oder dass man von anderen abgelegte Maitressen möglichst nicht tragen solle, erweisen sich noch heute als probates Mittel, um einen guten gesellschaftlichen Eindruck zu hinterlassen.

Walter Serner wurde 1889 in Karlsbad als Walter Seligmann geboren, ein Name, den er ebenso wie seine jüdische Religion 1909 mit seiner Übersiedelung zum Studium der Rechtswissenschaft nach Wien und später Berlin ablegt, um hinkünftig als Walter Serner oder – im Zuge seiner vielfältigen Camouflagen – unter verschiedensten Namen zu firmieren. Dabei scheut sich Serner nicht davor, unter Pseudonymen als Reporter mit erfundenen tolldreisten Geschichten von angeblichen Duellen bis hin zu erfundenen Dada-Kongressen seine Biografie zu frisieren. Nachdem er als falscher Arzt dem desertierten expressionistischen Literaten Franz Jung mit einem getürkten Attest zur Flucht in die neutrale Schweiz verholfen hatte, entzieht er sich selbst seiner drohenden Verhaftung und Einberufung. 1914 folgt er Jung ins Schweizer Exil. Serner hasst als überzeugter Pazifist den Krieg und seine geistig-moralischen Verwahrlosungen. In Zürich gibt Serner mit „Sirius“ und „Zeltweg“ bemerkenswerte Literatur- und Kunstzeitschriften heraus. Bald stößt er zu den Dadaisten und den Kreis um das Cabaret Voltaire, wo er mit der damaligen Kunstavantgarde verkehrt. Der neusachliche Maler Christian Schad wird sein engster Freund und porträtiert ihn mehrfach, unter anderem  als Heiliger Sebastian unter Pfeilbeschuss. Serner teilt mit ihm auch eine Zeitlang Wohnung und Frau.

Im Dezember 1919 veranstaltet Serner den ersten Weltkongress aller Dadaisten in Genf, 1920 den skandalumwehten Grand Bal Dada. Ab 1920 befindet sich Serner ständig auf Achse, seine Reisen führen ihn von Paris über München nach Neapel und retour. Er wendet sich nach einem Zerwürfnis mit Tristan Tzara in den Zwanzigerjahren endgültig vom Dadaismus ab und beginnt seine „Hanebüchenen Kriminalgeschichten“ zu verfassen. 1921 veröffentlicht er seinen ersten Band unter dem Titel „Zum blauen Affen“, der ihm erste, auch monetäre, Erfolge einträgt. 1925 folgt sein Roman „Die Tigerin“, der mit seinen zwielichtigen Gestalten und der sexuellen Offenheit von Handlung und Sprache zum Skandal wird. 1925 beginnen erste antisemitische Attacken. Der Nazi-Bluthund Alfred Rosenberg attackiert Serner gehässig: „Leben heißt für den Juden Moder schaffen und als Wurm darin wirken.“ 1927 schreibt Serner an Christian Schad: „Ich werde so gehasst … dass ich anfange, die Sache ekelhaft zu finden.“ Im selben Jahr reist Serner – wie eine seiner Romanfiguren – endgültig aus seinem Leben ab und verwischt selbst für seine Freunde alle Spuren. Serner zieht sich als Privatlehrer nach Prag zurück und heiratet seine langjährige Gefährtin Dorothea Herz. 1933 wird Serner von den Nazis auf die Liste der verfemten Autoren gesetzt, seine Bücher werden zu schädlichem und unerwünschtem Schriftgut erklärt. 1942 werden Serner und seine Frau, nachdem mehrere Ausreiseanträge nach Shanghai gescheitert waren, von der Gestapo verhaftet und auf dem Weg ins KZ Theresienstadt ermordet.

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