Gerald A. Matt

Kunstmanager, Publizist und Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst Wien

Portraits vergangener Welten

Juli 2019

Panoramabilder „Yard long photography“ faszinieren Gerald Matt, seit er vor vielen Jahren auf einem Flohmarkt, Ecke 23 Straße und 6 Avenue, eine 1,60 Meter lange und 40 Zentimeter breite Aufnahme der Niagarafälle entdeckte. Im Dornbirner Flatzmuseum eröffnete Anfang Juni die Ausstellung „Panorama“ mit Bildern der Sammlungen Jelitzka und von Mayreck. Monika Helfer und Michael Köhlmeier hauchten mit ihren Texten längst Vergessenem neues Leben ein. Hierzu einige Anmerkungen.

Panorama verheißt Allsicht. Das Wort kommt aus dem Altgriechischen πᾶν pan, deutsch „alles, ganz“ und ὁράω horao „sehen“. Panoramabilder erweitern unseren Betrachtungswinkel, unseren Blick auf die Welt. Die im Flatzmuseum gezeigten Panoramafotografien spiegeln das Bedürfnis der Menschen wider, das Gesehene möglichst authentisch und lebendig festzuhalten, ja mehr noch, die Möglichkeiten des gleichzeitigen Sehens räumlich und zeitlich zu erweitern. Raum und Zeit werden so eins, „Zeit“ wird im Sinne der von Erwin Panofsky in Bezug auf den Film formulierten Idee „verräumlicht“. So liegt Panoramabildern auch immer ein Moment der Irritation, des Staunens und der Überraschung inne, ist doch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aufregend, ungewohnt und neu. 
Als Gemälde dienten Panoramabilder seit dem 18. Jahrhundert zur umfassenden Darstellung von Architektur und Landschaften. Als Erfinder der breitformatigen Bilder gilt der Danziger Architekturmaler Breysig. Als Erster jedoch patentierte der irische Maler Robert Barker 1787 unter dem Namen „La Nature Coup d‘oeil“ den Plan eines zylinderförmigen Gebäudes, in dem sich Panoramagemälde optimal ausstellen ließen. Diese „Rotunden“ erlaubten es, ganze Szenerien überaus realistisch zu vermitteln. Die spektakulären, neuartigen „Panoramen“ erfreuten sie sich beim Publikum größter Beliebtheit und entwickelten sich nach 1800 zu einer visuellen Massenattraktion. Bis zu 15 Meter hoch waren die Bilder und erstreckten sich oftmals über bis zu 100 Metern, zusätzlich wurden sie gerne mit dreidimensionalen Elementen und Figuren im Vordergrund bereichert. Wenn ein Panoramabild 360 Grad abdeckt, wurde es auch als Rundbild bezeichnet. 

Der endgültige Durchbruch der Panoramabilder als Massenmedium brachte die aufkommende Fotografie mit sich. Schon in den 1830er Jahren wurde versucht, den Blickwinkel der Aufnahmen zu maximieren, indem einzelne Bilder in der analogen Photographie zu großen Panoramen zusammengefügt wurden. Rundgemälde hingegen verloren aufgrund des technischen Fortschritts und der gesellschaftlichen Veränderungen an Bedeutung. Die Panoramatechnik wurde in weiterer Folge der konventionellen Fotografie durch spezielle Panoramafotaoapparate immer perfekter.

„Im Kult an die Erinnerung an die fernen und abgestorbenen Lieben hat der Kultwert des Bildes die letzte Zuflucht. Im flüchtigen Ausdruck eines Menschengesichts winkt aus den frühen Photographien die Aura zum letzten Mal. Das ist es, was deren schwermutvolle und mit nichts zu vergleichende Schönheit ausmacht.“ Walter Benjamin

Dienten die „Panoramas“ vor allem im 19. Jahrhundert in Rundgemälden mit einer spektakulärem 360-Grad-Umsicht noch der Erinnerung historischer Momente (wie der Verherrlichung des Sieges von Andreas Hofer über die Franzosen und Bayern am Bergisel im Jahre 1809), so waren sie insbesondere in den USA von Anfang 1900 bis in die späten 1950er Jahre als sogenannte „Yard Long Photographs“ von Präsidenteninaugurationen oder Beerdigungen, Parteitagen und Präsidentschaftsnominierungen, Doktoratsverleihungen und Universitätsabschlussklassen, Freimaurertreffen, Firmenfeiern über Stadtportraits bis hin zu Schiffstaufen sehr verbreitet. 

Die Ausstellung „Panorama“ präsentiert „Yard Long Photographs“ aus zwei prominenten Fotosammlungen, den Wiener Sammlungen Jelitzka und von Mayreck. Die Arbeiten werden im Flatzmuseum zum ersten Mal präsentiert. Darunter finden sich Kuriositäten wie die Fotografien der Treffen der über die Jahre stark schrumpfenden Gemeinde der amerikanischen Maschinengewehrschützen über einen stolz aufnehmenden Ozeanriesen bis hin zu dem mit Besuchern des Weißen Hauses posierenden US-Präsidenten Hoover. Die Arbeiten zeigen polternde Junggesellen beim Diner im Luxushotel, am Strand posierende Bikinischönheiten im Wettbewerb um die Miss USA 1946 und die eitel posierenden, in Reih und Glied aufgestellten Mitarbeiter der Pure Milk Company. 
Panoramabilder gehörten bis in die 1960er Jahre, vor allem in den USA, zum Alltagsgeschäft von Fotografen und Fotoateliers, und ihr Großteil wurde von Gebrauchsphotographen erstellt, die ihre Bilder nicht mit ihrem Namen zeichneten, wodurch deren Urheberschaft in den meisten Fällen anonym blieb. 

Heute sind sowohl die große Masse der Portraitierten wie auch ihre Fotografen vergessen. Geblieben sind Tausende und Abertausende uns entgegenblickende Menschen, deren Namen und Geschichten längst dem Vergessen anheimgefallen sind, deren Bilder jedoch in besonderer Weise Susan Sonntags Überlegungen zur Photographie unterstreichen: „Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge). Eben dadurch, dass sie diesen einen Moment herausgreifen und erstarren lassen, bezeugen alle Fotografien das unerbittliche Fließen der Zeit.” 

Es ist nicht zuletzt auch das Geheimnis der sich zu Kollektiven vereinigenden Individuen, das unsere Aufmerksamkeit und Phantasie auf sich zieht.
Die Ausstellung „Panorama“ zeigt ergreifende Portraits vergangener Welten und bildet auch ein beeindruckendes „Memento mori“ für die heutigen Betrachter.
Panoramabilder sind neugierig machende, oft ergreifende Zeitdokumente, in denen sich nicht nur historisch-politische Ereignisse, sondern auch das Selbstverständnis, die Lebenswelten und -stile, die sozialen Unterschiede, Moden und Verhaltensweisen der fotografierten Menschen und Gruppen widerspiegeln. Ihre Geschichten sind nicht zuletzt visuelle Narrative, deren Potential durch den Betrachter erst geweckt werden. Bilder, die dazu anregen, im Kopf zu Geschichten geformt zu werden. Und so bilden die gezeigten Arbeiten auch die Basis für begleitende Texte von Monika Helfer und Michael Köhlmeier. Susan Sontag schrieb zur Kraft der Fotografie: „Statt reines Abbild der Realität zu sein, eröffnet die Fotografie einen neuen Wahrnehmungskontext. ,Unsichtbares‘, nicht Wahrgenommenes, wird sichtbar.“

Monika Helfer und Michael Köhlmeier erlösen mit ihren Erzählungen einzelne ausgewählte Abgebildete aus ihrer Anonymität und vergessenen Existenz und geben ihnen Namen und Leben zurück, ob sie nun als ehemalige Arbeiterinnen einer Schuhfabrik in Harrisburg den amerikanischen Traum realisieren und mit ihrem Jahreseinkommen jenes des US-Präsidenten übertreffen oder sich vom hehren Krankenschwesternberuf verabschiedeten und nach der Ermordung eines Bankangestellten hingerichtet wurden.
Es ist die Dialektik von Kollektiv und Individualität, Ornament der Masse und individueller Ausstrahlung, Präsenz und Vergänglichkeit der festgehaltenen Szenen und Inszenierungen, die den „Panoramas“ ihre Aura und Anziehungskraft geben.

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