Gerald A. Matt

Kunstmanager, Publizist und Gastprofessor an der Universität für angewandte Kunst Wien

Reisen zuhause – ein Tipp für einen spannenden Jahreswechsel

Dezember 2014

Blaise Pascal beherzigend, der ausführte, dass „das ganze Unglück der Menschen aus einem einzigen Umstand herrührt, nämlich, dass sie nicht in einem Zimmer bleiben können“, darf ich Ihnen für den heurigen Jahreswechsel eine ganz besondere Reise empfehlen.

Vor Weihnachten und Neujahr wird man immer wieder – Weihnachtsfeier auf und ab – darauf angesprochen, was man denn vorhabe, wohin es diesmal gehe, welche weiße unberührte Pracht, welcher unentdeckte Strand diesmal locke. Bevor man jedoch antworten kann, wird man meist mit irgendeinem Superlativ bzw. Geheimtipp übertrumpft bzw. zugemüllt.

Wer sich zu den Feiertagen der allerorten grassierenden Reisehysterie entziehen möchte, dem lege ich ans Herz, es dieses Jahr einmal mir gleichzutun und dem Vorbild von Xavier de Maistre zu folgen und eine Entdeckungsreise durch die eigenen vier Wände zu unternehmen. Sie werden sich dabei nicht nur viel Geld, Kopf- und Halsbrüche, Flugverspätungen, Sonnenbrände, Alpen- und Strandgigolos, Haiattacken, Ehekrisen und sonstige Unannehmlichkeiten ersparen, sondern auch die Chance haben, sich selbst und ihre Welt zu entdecken und einige Überraschungen zu erleben.

Dies ist kein Plädoyer für Stubenhocker oder Sparefrohs, nein, im Gegenteil, wohl eher ein Aufruf an Fantasie und Abenteuerlust. Ich selbst konnte schon mehrmals eine „Heimreise“ genießen, ich weiß also, wovon ich spreche (hiezu auch einige Bilder von P. A. Leitner). Max Dauthendey bedauerte in seinem Buch „Himalajafinsternis“ die Angst des Reisenden vor der Desillusionierung seiner Träume: „Das ist der Fluch und zugleich die Wollust des Reisens, dass es dir die Orte, die vorher in der Unendlichkeit und Unerreichbarkeit lagen, endlich und erreichbar macht.“ Dass Reisen auch immer eine Enttäuschung inneliegt, daran erinnert der französische Schriftsteller Joris Huysmans, der in seinem Buch „Gegen den Strich“ Baron des Esseintes die ersehnte Reise nach England antreten ließ, um sie alsbald wieder abzubrechen. So machte er sich zum Bahnhof St. Lazare auf, um von dort aus den Zug nach England zu besteigen, gab jedoch nach dem Besuch einer Taverne voller Engländer unweit des Bahnhofs und nach dem dortigen Verzehr eines englischen Menüs seine Reisepläne auf. Denn das wahre England hätte seinem Traum ohnedies nicht mehr gerecht werden können. Ludwig, der schöne und sensible Bayernkönig, trat eine Reise an den Vierwaldstättersee an, um dort jedoch in den verdunkelten Räumen seiner Jacht zu verbleiben, um von der Wirklichkeit der Originalschauplätze unbehelligt weiter von seinem Wilhelm Tell träumen zu können. Der Weltreisende und Millionär Raymond Roussel ließ seine Jacht vor der indischen Küste, seinem Traumziel, abdrehen und die Rückreise antreten, um nicht enttäuscht zu werden.

Eine Reise durch die eigenen vier Wände wird sie dieses Jahr vor derartigen Enttäuschungen und allem Reisestress bewahren.

Nun zu de Maistre, unserem Vorbild. Während eines wegen eines verbotenen Duells über ihn verhängten sechswöchigen Hausarrests entdeckt der Edel- und Lebemann Xavier de Maistre die schier unermesslichen Reisemöglichkeiten in seinem Zimmer. „Voyage autour de ma chambre“ („Die Reise um mein Zimmer“), ein am Ende des 18. Jahrhunderts verfasster Roman, ist eine wahre Hymne an die Kunst des Reisens, eine Kunst, die das Fremde, Unbekannte untrennbar mit der Neugier und Fantasie des Reisenden verbindet. Dabei peilt de Maistre notgedrungen keine exotische Destination an, sondern erkundet in seiner temporären Haft das Besondere seiner Umgebung und damit die Welt in sich selbst. Für de Maistre ist das eigene Zimmer so etwas wie eine „paradiesische Gegend, die alle Güter und Schätze der Welt in sich hat“. So wird „Die Reise um mein Zimmer“ auch zu einer literarischen Expedition in das Innere des Autors und gleichzeitig zu einer Philosophie der Ortsveränderung und des Nomadentums. Der „sesshaft Reisende“ de Maistre ist auf der Spur einer ihm vermeintlich vertrauten Welt, die er mit den neugierigen Augen eines distanzierten und ironisch gestimmten Fremden betrachtet.

Indem er Geschichten und Erfahrungen, die sich den Objekten des Raumes eingeschrieben, ja einverleibt haben, reanimiert und von Neuem durchlebt, lässt er Zeit und Raum hinter sich. Der Alltag und seine Objekte verwandeln sich für de Maistre in unbekannte Wunderwelten voller magisch aufgeladener Preziosen. Enthusiastisch feiert de Maistre die Segnungen seiner zeitweiligen Gefangenschaft im Exil seiner Wohnung, die ihm zu einer Insel der Freiheit, Ruhe und Selbsterkenntnis wird: „Sie haben mir untersagt, durch eine Stadt, einen
geografischen Punkt zu laufen, aber sie haben mir das gesamte Universum überlassen. Die Unermesslichkeit und Ewigkeit stehen zu meinen Diensten.“ Ähnlich der Schriftsteller und Sammler Edmond de Goncourt, der in seinem Buch „Das Haus eines Künstlers“ auf hunderten Seiten sämtliche Gegenstände in seiner Wohnung minutiös auflistete, von Möbeln über Porzellan und Bücher bis hin zu seinen Bildern, um sie gleichsam wie die Orte auf einer Landkarte in unzähligen, immer wieder neuen Konstellationen bereisen zu können.

Ich darf Ihnen bei Ihrer Reise in Ihrer Wohnung viel Vergnügen wünschen und gebe Ihnen Empfehlungen für eine unterhaltsame Reiselektüre mit auf den Weg: „Die Reise um mein Zimmer“ von Xavier de Maistre, „Die Kunst des Reisens“ von Alain de Botton, „Reisender Stillstand“ von Bernd Stiegler, „Gegen den Strich“ von Joris Huysmans, „Die Rote“ von Alfred Andersch, „Schwarzes Unheil“ von Evelyn Waugh und „Letzte Lockerung“ von Walter Serner.

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