Thomas Feurstein

* 1964 in Bregenz, Studium der Germanistik und Geografie, Biblio­thekar und Leiter der Abteilung Vorarlbergensien an der Vorarlberger Landes­bibliothek seit 1998.

 

Zerbrechliche Erinnerungen

Februar 2018

Aus privatem Besitz gelangte vor einigen Wochen eine kleine Sammlung an Fotografien in die Landesbibliothek. Das Trägermedium sind Glasplatten, die zwar zerbrechlich sind, auf der anderen Seite aber unempfindlich gegen Hitze oder andere Umwelteinflüsse. Die lange Lebensdauer macht sie zum idealen Medium für Institutionen, deren Aufgabe es ist, kulturelles Erbe zu bewahren.

Am Samstag gegen 6 Uhr abends wurde der elf Jahre alte Knabe Burkhard Bauer aus Innerbraz auf offener Strecke in der Nähe von Innerbraz-Mühlplatz von einem aus Richtung Bludenz kommenden Kraftwagen angefahren und schwer verletzt. Der Knabe stand an der Straße an einem Alleebaum, während seine Mutter und zwei Geschwister in der Nähe auf Holzsuche waren.“ So die kurze Notiz im Vorarlberger Volksblatt vom 11. Juni 1935. In der Folge wird beschrieben, dass der Unfalllenker kurz angehalten, dann aber seine Fahrt ohne zu helfen fortgesetzt habe. Der Knabe wurde ins Bludenzer Krankenhaus eingeliefert, wo er kurz darauf verstarb. In den Tagen danach befassten sich noch weitere Meldungen in regionalen Zeitungen mit dem Vorfall: Zunächst wurde berichtet, dass der Unfalllenker identifiziert worden sei, später wurde diese Meldung wieder dementiert, worauf die Suche nach dem flüchtigen Täter fortgesetzt wurde.

Das Foto aus der neu erworbenen Sammlung der Vorarlberger Landesbibliothek zeigt die große Trauergemeinde, die sich anlässlich des Unglücksfalls bei der Volksschule in Innerbraz eingefunden hatte. Obwohl die kleine Sammlung nur 42 Glasplatten enthält, dokumentiert sie doch exemplarisch den gesellschaftlichen Wandel im Arlberggebiet. Die Fotos wurden zwischen 1895 und 1935 aufgenommen und zeigen Motive, die sich auf das Gebiet zwischen Innerbraz und Landeck konzentrieren. Besonders interessant sind die älteren Bilder, da sie eine Landschaft zeigen, die noch nicht vom Tourismus geprägt ist. Ein Foto muss sogar vor 1895 aufgenommen worden sein, da im Hintergrund von Stuben die Flexenstraße noch nicht zu sehen ist.

War es auf der einen Seite der Tod eines Einzelnen, der durch den aufkommenden Autoverkehr verursacht wurde, so waren es auf der anderen Seite ganze Ortschaften und Täler, die durch die erhöhte Mobilität ein anderes Gesicht erhielten.

Besonders sichtbar werden die Veränderungen des Landschaftsbilds in der Arlbergregion, die sich über Jahrhunderte verkehrsmäßig eher nach Norden orientiert hatte, da sich dort Absatzmärkte für landwirtschaftliche Produkte fanden. So konnte man über Saumwege relativ leicht Oberstdorf, den wichtigsten Handelsplatz der Tannberger, erreichen. Der alte Weg von Stuben nach Zürs und der Gafriweg von Rauz nach Zürs waren hingegen sehr beschwerlich und im Winter ständig von Lawinen bedroht. Mit der Verbesserung des Weges über den Flexenpass verlagerten sich ab 1856 die Handelsbeziehungen vermehrt von Norden nach Süden. Die Eröffnung der Arlbergbahn 1884 und das Aufblühen des Tourismus erhöhten den Druck, eine dauernd befahrbare Verbindung von Stuben nach Lech zu errichten. Kurz nach der Jahrhundertwende hatte das noch keinen Einfluss auf das Landschaftsbild von Lech, gibt es doch noch keine Lifte oder Hotels. Der Talboden ist von den Heinzen der Heuernte geprägt und der Lech und der Zürsbach fließen noch ungezähmt in einem breiten Bachbett durch die Ortschaft.

Da immer mehr Touristen mit der Arlbergbahn anreisten, wurde es notwendig, eine Verkehrsanbindung zu errichten, die auch im Winter passierbar ist. 1892 hatten die Gemeinden Lech und Warth ihr Gesuch zum Bau einer sicheren Straße eingereicht und schon 1895 erfolgte der Spatenstich zum Bau der Flexenstraße. Bis zur feierlichen Eröffnung dauerte es dann nur zwei Jahre. Die Fertigstellung stellte aber noch lange keine Garantie dar, im Winter Lech und Zürs gefahrlos zu erreichen. Helmut Tiefenthaler, einer der profundesten Kenner des Klostertals, beschreibt in einem Artikel in den Bludenzer Geschichtsblättern, dass bis in die 1920er-Jahre die höher gelegenen Alpenpässe im Winter für den Verkehr gesperrt und oft erst ab Pfingsten wieder befahrbar waren.

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