Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Wir unterschätzen den Einfluss der Werbung“

September 2015

Schätzungen zufolge wird jeder Mensch pro Tag mit 500 Werbebotschaften konfrontiert. Jörg Matthes (38), Institutsvorstand und Professor für Werbeforschung an der Universität Wien, spricht im „Thema Vorarlberg“-Interview über die Macht der Werbung – und ihre bedenkliche Wirkung auf Kinder. „Denn Kinder sind für Werbung besonders empfänglich.“

Sie sind wohl einer der Wenigen, die sich freuen, wenn eine Werbeeinschaltung einen spannenden Film unterbricht …

Na ja, zumindest aus wissenschaftlicher Sicht (lacht). Ich kann das wissenschaftliche Auge beim Fernsehen ja nicht ausschalten und denke dann natürlich darüber nach, wie Werbebotschaften gestaltet sind, ob sie angemessen sind, was Sie bei den Rezipienten, sprich den Konsumenten, auslösen und inwieweit sie irreführend sind. Das ist meine Perspektive, die kann ich schwer ausblenden.

Wie stark beeinflusst Werbung unser Leben?

Die Forschung sagt, dass wir den Einfluss der Werbung auf unsere Entscheidungen für gewöhnlich unterschätzen. Das ist sehr gut belegt. In der Regel gehen Menschen davon aus, dass sie selbst von Werbebotschaften sehr wenig beeinflusst werden. Wenn jemand überhaupt beeinflusst wird, dann nur die anderen. Das ist aber ein Wahrnehmungsfehler.

Inwiefern?

Nun, der Rezipient will souverän sein und eigene Entscheidungen treffen, die seinen Einstellungen, Wünschen und Vorlieben auch tatsächlich entsprechen. Dazu passt es nicht, dass wir durch Werbung beeinflusst werden. Daher gehen Menschen davon aus, dass eher die anderen, nicht aber man selbst von Werbe­effekten betroffen ist. Dass Werbung aber einen Effekt haben muss, ist schon allein an den riesigen Summen ersichtlich, die in Werbebotschaften investiert werden. Ohne Effekte auf die Menschen würde niemand so viel Geld in die Werbung stecken. Wenn sich beispielsweise weltweite Kampagnen für bestimmte Produkte im Umsatz nicht niederschlagen würden, warum sollten die Konzerne dann solche Summen für die Werbung in die Hand nehmen? Denken Sie nur einmal an die Auto-Werbung!

Sie haben einmal gesagt, es sei eine Illusion, zu glauben, dass wir selbstbestimmt mit Meinungen und Produkten umgingen.

Wir werden mit Werbebotschaften konfrontiert, tagtäglich, permanent, überall. Aber in den seltensten Fällen reflektieren wir bewusst, was die Werbung in diesem Moment mit uns macht. Oft nimmt man Werbung nur beiläufig wahr. Aber selbst solche Botschaften haben Effekte. In der psychologischen Forschung weiß man, dass auch die nur beiläufige Wahrnehmung von Werbung eine Spur im Gedächtnis hinterlässt. Diese Spur kann später in eine Kaufentscheidung für das besagte Produkt münden.

Wir bitten um ein Beispiel …

Wenn wir etwa ständig eine Werbung für einen bestimmten Schokoriegel oder eine bestimmte Sorte Chips sehen und das auch nur beiläufig registrieren, dann wird dieses Wissen in unserem Informationsverarbeitungssystem verankert. Und wenn wir dann in eine Verkaufssituation kommen, ist diese Information einfach da, ob wir nun wollen oder nicht. Dann kaufen wir diesen bestimmten Schokoriegel und diese Sorte Chips mit einer größeren Wahrscheinlichkeit im Vergleich zu Menschen, die die Werbung nicht gesehen haben. Natürlich hängen alle Werbeeffekte stark von den Eigenschaften einer Person, von der Art der Botschaft und von der konkreten Situation ab, in der man sich befindet. Aus diesen Gründen sind die Effekte manchmal stärker, manchmal schwächer, manchmal vielleicht auch nicht nachweisbar. Insgesamt sind Werbeeinflüsse aber sehr gut belegt.

Läuft im Fernsehen Werbung, schalten wir um, Werbeeinschaltungen im Internet klicken wir weg. Doch wer meint, sich damit dem Einfluss der Werbung entziehen zu können, irrt also?

Man kann sich natürlich dem Einfluss von Werbung entziehen. Am einfachsten ist es, wenn man umschaltet oder wegzappt. Allerdings habe ich damit nur einen Teil der Werbebotschaften vermieden. Manche Werbungen kann man aber nicht wegschalten wie einen TV-Kanal, sie sind einfach in unserem Leben präsent. In diesem Fall müsste man bewusst und aktiv gegensteuern. Aber das kostet sehr viel Kraft. Ich müsste permanent Werbebotschaften reflektieren. Mit jeder Botschaft, mit jedem Plakat, das sie sehen, müssten sie sich selbst sagen: Ich habe das Plakat jetzt gesehen, finde das aber nicht gut. Die meisten machen das nicht. Und es ist sehr schwer, sich allen Werbebotschaften zu entziehen. Schätzungen gehen davon aus, dass wir jeden Tag mit mehr als 500 Werbebotschaften konfrontiert werden. Es wird ja nicht nur im Fernsehen oder im Internet geworben. Werbebotschaften gibt es im Alltag permanent – auf Plakaten, auf Autos, in Zeitungen, auf Broschüren. Überall. Das ist leicht zu unterschätzen, oftmals aus dem einfachen Grund heraus, dass wir es nur beiläufig wahrnehmen. Ein Beispiel: Sie schauen einen Film. In diesem Film werden Produkte gezeigt. Das ist die sogenannte Produktplatzierung. Getränke, Speisen, Autos, Kurorte, was auch immer. All das ist Werbung. An allen Orten Werbung zu erkennen und sich dann auch noch klarzumachen, dass das Werbung war, und das eigene Schutzschild zu aktivieren, das ist äußerst schwer.

Was ist das für ein Schutzschild?

Rezipienten sind der Werbung nicht vollkommen hilflos ausgeliefert. Es gibt einige Mechanismen, die Menschen erlernen, um mit Werbung souverän umzugehen. Es existiert ein grundsätzliches Wissen, was Werbung ist, was Werbung mit uns macht. Das lernen wir im Jugendalter. Und grundsätzlich sind die Menschen der Werbung gegenüber kritisch eingestellt. Man sagt sich, Werbung möchte mich überzeugen, hinters Licht führen, Werbung verwendet Argumente, die nicht stimmen. Werbung wird eher negativ betrachtet, wie die Forschung zeigt.

Aber die Werbeindustrie …

Die Werbeindustrie weiß das natürlich und versucht dementsprechend, die kritische Haltung gegenüber der Werbung auszuhebeln – mit bestimmten Taktiken und Techniken. Sie kennt diesen Schutzschild und die Möglichkeiten, ihn zu umschiffen. Man darf daher die Wirkungsgewalt von Werbung in der modernen Medienwelt nicht unterschätzen. Gerade die moderne Werbung bedient sich diverser Stilmittel, die sehr wirkungsvoll sind. Sie spricht beispielsweise Emotionen an. Darauf reagieren wir intuitiv, schalten mitunter das reflektierte Denken aus. Oder sie setzt auf Schlüsselreize, beispielsweise Erotik. Darauf reagieren wir evolutionsbedingt. Oder die Werbung ist einfach so gut und unterhaltsam gemacht, dass sie uns gefällt. Also wie gesagt: Wollte man sich dem Einfluss der Werbung entziehen, müsste man permanent Werbebotschaften reflektieren.

Sind Kinder deswegen für Werbung zugänglicher als Erwachsene? Weil ihnen diese Fähigkeit zur reflektierenden Betrachtung noch fehlt?

Genau. Kinder lernen erst ungefähr mit dem elften Lebensjahr, den Unterschied zwischen Werbung und dem journalistischen Programm zu erkennen. Deswegen ist Werbung bei Kindern aus ethischer Sicht nicht unproblematisch. Denn die Kinder sind diejenigen, bei denen die Werbewirkung am stärksten ist, sie sind diejenigen, die sich am wenigsten dagegen wehren können. Sie finden bei Kindern die stärksten Effekte, weil sie ihren Schutzschild noch nicht ausgeprägt haben, weil sie Kauf- und Konsumentscheidungen noch nicht vollends entwickelt haben. Als erwachsener Mensch wissen sie, was sie am liebsten mögen, sie trinken das Bier, das ihnen am besten schmeckt, wissen, welches Auto oder welche Schokolade sie kaufen wollen. Ein erwachsener Mensch hat seine Konsumentscheidungen über eine längere Zeitspanne entwickelt. Kinder entwickeln diese erst und sind deswegen empfänglicher für Werbebotschaften – und so verwundbar.

Sie arbeiten derzeit an einem Forschungsprojekt, das zeigen soll, wie gezielte Werbung das Essverhalten von Kindern beeinflusst.

Uns geht es dabei vor allem um die Frage, wie wir Kinder vor potenziell schädlichen Werbeeffekten schützen können. In der Publizistikwissenschaft geht es uns stark um die gesellschaftlichen Auswirkungen von Werbung, die gesellschaftliche Bedeutung von Werbung und die Frage, ob Werbung nun gut oder schlecht ist für die Gesellschaft.

Was nun das Essverhalten der Kinder betrifft …

In der Werbung, etwa im Rahmen von Produktplatzierungen in Soaps oder Kinderfilmen, wird die Ernährungspyramide umgedreht. Beworben wird nicht das, was man täglich essen sollte, beworben wird das, was eigentlich den kleinsten Teil der Ernährung ausmachen sollte – kalorienreiche, fetthaltige, ungesunde Produkte. Kinder werden in Kinderfilmen in hohem Maß mit ungesunden Nahrungsmitteln konfrontiert. Denken Sie an die Pepsi-Cola im Film „Kevin allein zu Haus“ oder die Käsebällchen im Film „Alvin und die Chipmunks“. Diese Art der Platzierung von Produkten wirkt – mit der Folge, dass Kinder schon in frühem Alter Konsumentscheidungen treffen und Verhaltensmuster entwickeln, sich möglicherweise ungesund zu ernähren. Und das hat langfristig natürlich potenziell negative Auswirkungen auf das Gesundheitssystem. Denn im Erwachsenenalter ist es äußerst schwer, solche Verhaltensmuster wieder zu ändern.

Führen Sie die Tatsache, dass die Kinder in Österreich immer übergewichtiger werden, also auch auf die Werbung zurück?

Es gibt natürlich viele Ursachen, nicht nur eine einzige. Bewegung ist bei Kindern natürlich ganz, ganz wichtig. Aber die Konfrontation von Kindern mit Werbebotschaften ungesunder Produkte spielt natürlich auch eine Rolle. Die Werbung ist sicher einer der Faktoren, warum der Anteil übergewichtiger Kinder steigt. Die Omnipräsenz von werblichen Reizen für fett- oder zuckerhaltige Produkte ist in der heutigen multimedialen Welt enorm. Und dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, statistisch gesehen, dass ich damit konfrontiert werde, und damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass ich zu diesem Produkt greife.

Eltern wissen: Kinder sind heutzutage viel markenorientierter. Auch ein Ergebnis der Werbung?

Das kann man schon sagen. Dass Marken als stellvertretende Attribute für uns und unsere Persönlichkeit gelten, ist natürlich ein Resultat der Werbung. Werbung zeigt uns, was die Marken repräsentieren. Bei Kindern greift das ganz intensiv. Mit Marken erreicht man beispielsweise Status. Kinder wollen deshalb die Marke haben, sie erreichen damit Anerkennung, und das Markenbewusstsein nimmt weiter zu. Hier sind die Eltern und die Schule gefragt, hier ist das Umfeld gefragt, das in die Diskussion zu tragen. Das ist ein ganz entscheidender Punkt – Kinder vorzubereiten und kompetent zu machen, ihnen auch vorzuzeigen und sie darüber aufzuklären, warum sie denn bestimmte Marken haben wollen. Werbung generiert Wünsche in uns, Werbung zeigt uns ideale Bilder und weckt in uns den Wunsch, genau so zu sein wie das dargestellte Idealbild. Wünsche und Sehnsüchte werden angesprochen. Und dafür sind die Menschen natürlich empfänglich. Eines muss man allerdings auch sagen: Werbung hat eine wichtige wirtschaftliche Funktion, sie schafft Arbeitsplätze, erhöht die Wirtschaftskraft, stiftet auch Kultur. Journalismus wird durch Werbung finanziert. Ohne Werbung gäbe es viele Dinge nicht, auf die wir nicht verzichten, für die wir aber auch nicht mehr bezahlen wollen. Daher greift es zu kurz, die Werbung nur zu verteufeln. Aber …

Ja bitte?

Wir untersuchen in unserer Forschung nicht den Werbeerfolg, wir untersuchen die Werbewirkung. Das ist ein wichtiger Unterschied. Werbeerfolg meint, ob durch die Werbung das Ziel des Werbetreibenden erreicht wird. Werbewirkung umfasst jegliche Auswirkung von Werbung, dies muss keineswegs der Perspektive der Werbetreibenden entsprechen. Wir untersuchen beispielsweise, was Werbung mit Kindern macht, unabhängig davon, ob das im Sinne der Werbetreibenden ist. Und wir haben dabei den Blick immer auch auf möglicherweise gesellschaftlich problematische Entwicklungen gerichtet. Es gibt auch einen Graubereich von Werbung, der irreführend ist und grundsätzlich kritisch hinterfragt werden sollte. Da steht die Gesellschaft in der Pflicht. Die Aufgabe der Forschung ist es dabei, objektiv nachzuweisen, welche Wirkungen denn vorliegen, ohne dies spekulativ vorwegzunehmen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Kommentare

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Ich bin sehr dankbar, diesen Text speisen zu können mit meinem Kopf (methaphorische Denke) jeden Abend um 20.15 (PRIMETIME). Jedoch muss ich hinzufügen, dass nicht alles korrekt scheint, das kann mein Geschichtsprofessor bestätigen. Vielen Dank für ihre Mühe ich werde in zwei Jahren meine Doktorarbeit auf dieses Meisterwerk zu Papier bringen. Vielen Dank für das Gespräch und ihre Zuneigung, Liebe Grüße, schönen Tag noch und Guten Appetit!
wir denken, dass summa summarum juckts eigentlich niemandem
Mein Größter Feind: Die Radiowerbung. Wenn mir etwas den letzten Nerv rauben kann dann die Zwangsbeglückung im Büro durch schlechte, extra laute Radiowerbung.