Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

Peer Steinbrücks Appell an das „Penthouse der Gesellschaft“

Juni 2015

Peer Steinbrück (68), ehemaliger deutscher Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat, spricht im Interview mit „Thema Vorarlberg“ über die österreichische Bundesregierung, den Stellenwert der Sozialdemokratie, die negative Seite von Medien und über das „Penthouse der Gesellschaft“, das für einen sozialen Ausgleich einzustehen habe.

Herr Steinbrück, in Ihrem aktuellen Buch „Vertagte Zukunft“ dient die österreichische Bundesregierung als Negativbeispiel …

Nein, nicht als Negativbeispiel. Ich weise nur darauf hin, was es bedeutet, eine große Koalition zu haben, die über Jahre hinweg dem Adjektiv „groß“ nicht gerecht wird, da sie die zentralen Zukunftsthemen nicht aufgreift, sondern lieber auf Sicht fährt. Beide großen Volksparteien in Österreich, die SPÖ und die ÖVP, haben immer weiter abschmelzende Wahlergebnisse, weil sie offenbar den Erwartungen an eine große Koalition nicht gerecht werden. Das ist meine Erfahrung nach persönlichen Gesprächen in Ihrem Land. Und daraus versuche ich einen Parallelschluss zu führen, dass dies auch in Deutschland passieren könnte, wenn die dritte große Koalition diesem Adjektiv „groß“ ebenfalls nicht gerecht werden würde. Wenn eine große Koalition – egal wo – von der Bevölkerung nur als bloße Verwaltungsgemeinschaft ohne Mut und Tatkraft wahrgenommen wird, öffnet sie politischen Freibeutern den Raum und wird von Mal zu Mal schmalbrüstiger. Die Freibeuter insbesondere am rechten Rand fischen mit sehr populistischen, auch sehr chauvinistischen Angeboten im Trüben und nutzen die Unzufriedenheit aus. Und enttäuschte Wähler sind manchmal bereit, auf diese falschen Antworten hereinzufallen.

Die Politik müsse ihre Steuerungs- und Gestaltungsmöglichkeiten zurückgewinnen, lautet einer Ihrer Appelle.

Ja. Viele Menschen haben den Eindruck, dass nicht mehr die demokratisch legitimierte Politik ihre Arbeits- und Lebensverhältnisse bestimmt, sondern dass anonyme und exzessive Marktkräfte bestimmen. Diese Erfahrung haben viele Bürger in europäischen Ländern im Zuge der Banken- und Finanzkrise und in Zeiten der Globalisierung gemacht. Deshalb glaube ich, dass Politik Handlungsfähigkeit und damit auch Vertrauen wieder zurückgewinnen muss. Das gelingt aber nur auf einer internationalen Ebene. Und für uns Europäer ist das die EU.

Allerdings bräuchte es, um den Vertrauensverlust zu kompensieren, mutige Politiker …

Ja, jedenfalls keine Politiker, die eher moderieren und nicht anecken und stören wollen. Es bräuchte einen Typus von Politiker, der klare Ansagen trifft und einen Gestaltungsanspruch erhebt.

Dieser Typ Politiker kommt allerdings nicht allzu oft vor.

In Bezug auf die Personalauswahlprozesse der Parteien stelle ich kritisch fest, dass der Ernstfall für einige Politiker offenbar nicht mehr in der Begegnung mit dem Wähler oder der Wählerin besteht, sondern vielmehr darin, unbeschädigt und mit einer hohen Zustimmungsquote durch die Parteitage und Delegiertenkonferenzen ihrer eigenen Parteien zu kommen. Aber die meisten Wähler lassen sich nicht gewinnen, indem Politiker nur den parteiverträglichen Kodex singen. Sie werden ihrer eigenen Partei manchmal auch vorausgehen müssen.

Allerdings haben die Politiker in Österreich und in Deutschland kein gutes Image.

Teilweise zu Recht, teilweise zu Unrecht. Zu Recht, weil ihre Sprache häufig sehr abgehoben ist, sehr technokratisch klingen kann, weil die Politik sehr ritualisiert ist, viele Nullsätze produziert und viele folgenlose Veranstaltungen organisiert. All das trifft auf eine berechtigte Kritik der Wähler. Umgekehrt sage ich aber den Wählern: Wer in einem demokratischen Gemeinwesen soll zu demokratisch legitimierten Mehrheitsentscheidungen unter Wahrung eines Minderheitenschutzes beitragen, wenn nicht politische Parteien und die Frauen und Männer, die sich dort engagieren? Wer denn sonst? Talkshows? Meinungsumfragen? Eine Art Ältestenrat, der nur aus alten Männern besteht?

Schuld an dem schlechten Image der Politik geben Sie auch den Medien.

In meinen Augen sind die Medien an einem Prozess der Entpolitisierung mindestens mitbeteiligt. Unter dem obwaltenden Druck und dem Wettbewerb zwischen Klicks, Auflagen und Quoten sind Medien zunehmend dazu übergegangen, sehr leckermäulig, sehr kurzfristig spektakuläre Nachrichten zu produzieren, in Online-Diensten oder in Nachrichtensendern. Sie unterscheiden oftmals nicht mehr zwischen wichtig und unwichtig. Sie suchen das Spektakuläre und tragen damit zur Banalisierung und zur Skandalisierung von Politik bei. Und damit sind sie auch beteiligt an einem Rückgang des politischen Interesses bei Bürgern. Allerdings reagieren Journalisten sehr empfindlich, wenn man das tut, was sie mit Politikern machen – sie zu kritisieren! Dann schnappt der Selbstschutzmechanismus zu: „Wollen Sie die Pressefreiheit abschaffen?“

Im Buch formulieren Sie die Kritik recht kräftig. Da heißt es: „Durch geöffnete Schleusen wird entsetzlicher Dreck gepumpt.“

Das kann man ja im Internet erleben! Und zwar nicht nur mit Blick auf die anonyme Enthemmung von einzelnen Bürgern im Internet, sondern auch bei Online-Diensten, die Verlagen gehören, die auch im Printbereich tätig sind. Was ich da teilweise an Spekulationen, an Verschwörungstheorien, auch an Häme lese! In meinen Augen hat das in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen.

Sie setzen sich auch kritisch mit dem Status quo der Sozialdemokratie auseinander, sagen, dass „der Status der SPD als Volkspartei gefährdet“ sei.

Ja. Der Status ist gefährdet, wenn wir in der Zustimmung vom letzten Bundestagswahlergebnis von 25,7 Prozent noch weiter absinken sollten. Ich halte den Status auch vor dem Hintergrund jüngster Landtagswahlen für gefährdet. Bei den Landtagswahlen in Thüringen und in Sachsen haben von den wahlberechtigten 18- bis 35-jährigen Wählern nur noch sechs Prozent die SPD gewählt. Die SPD wird sich sehr kritisch mit den Ursachen beschäftigen müssen.

Lässt sich grenzüberschreitend eine Diagnose stellen, warum die Sozialdemokratie Stimmen verliert? In Deutschland und in Österreich?

Es gibt mehrere Ursachen. Die Sozial­demokratie hat über gesellschaftliche Veränderungen ihr klassisches Wähler­klientel einer organisierten Arbeitnehmerschaft verloren. Viele sind zu Facharbeitern aufgestiegen, andere in ein Prekariat abgestiegen, ziehen sich enttäuscht zurück, gehen nicht mehr wählen, sehen in der Sozialdemokratie nicht mehr die Partei ihrer Interessenwahrnehmung. Die Wählerschaft, die die SPD in Deutschland einst auf 40 Prozent gebracht hat, sieht in der heutigen SPD offenbar nicht mehr eine Partei des Fortschritts, nicht mehr die Partei, die die zentralen Zukunftsthemen auf die Tagesordnung setzt, sieht in der Partei keine Kraft mehr, die zu Enthusiasmus führt. Was also ist zu tun? Ich glaube, dass die Sozialdemokratie in ganz Europa nicht den Fehler machen darf, allein ihr sozialpolitisches Kompetenzprofil in den Vordergrund zu stellen. Sie muss darüber hinaus angesichts vielfältiger Lebensstile und Möglichkeiten der Lebensgestaltung eine kulturelle Mehrheit anstreben. Und sie muss zwingend in der Zuweisung von wirtschaftspolitischer Kompetenz aufholen, gerade in Zeiten der Globalisierung, gerade in Zeiten großer Schwierigkeiten, öffentliche Ausgaben zu finanzieren und gleichzeitig die Länder wettbewerbsfähig zu erhalten.

Sie sind ein unbequemer Genosse – wenn Sie etwa feststellen, dass sich der Sozialstaat sich nicht weiter ausbauen lässt.

Der Sozialstaat lässt sich jedenfalls nicht weiter ausbauen, wenn man nicht seine ökonomischen Voraussetzungen mitkoppelt. Diese ökonomischen Voraussetzungen müssen gegeben sein, um den Sozialstaat weiter auszubauen. Im Übrigen weise ich darauf hin, dass Sozial­staatlichkeit, die ich als Kulturgut empfinde, inzwischen nicht mehr ein Alleinstellungsmerkmal der SPD ist. Vielmehr haben sich alle anderen demokratischen Parteien auch als Sachwalter des Sozial­staats mehr oder weniger entwickelt. Deshalb sage ich, dass die SPD insbesondere die der CDU/CSU zugewiesene wirtschaftspolitische Kompetenz für sich beanspruchen muss, indem sie in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung sich das Markenzeichen einer sozialen Marktwirtschaft aneignet und der CDU/CSU Ludwig Erhards – „Wohlstand für alle!“ – streitig macht.

Sie schreiben, dass der „schnöde Kapitalismus“ das Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft allerdings zerstöre …

Wir haben 1989/1990 die Implosion des realen Sozialismus durch seine Schnödigkeit im Umgang mit den Menschen erlebt. Doch auch ein exzessiver Kapitalismus – Helmut Schmidt spricht von einem Raubtierkapitalismus – könnte seine eigenen Grundlagen zerstören. Indizien gibt es dafür. Denjenigen, die in den oberen Etagen des gesellschaftlichen Gebäudes besser gestellt sind, stelle ich deswegen die kritische Frage, ob sie nicht ein massives Interesse haben müssten, für einen sozialen Ausgleich, für Aufzüge in dem gemeinsamen gesellschaftlichen Gebäude und für Hausfrieden einzutreten. Alle Mitbewohner zur Teilnahme und Teilhabe einzuladen und Maß und Mitte in der Verteilung des Wohlstands zu wahren, statt die derzeitige Drift zu beschleunigen. Wir haben es auch in Deutschland seit zehn, fünfzehn Jahren mit einer deutlichen Schere in der Vermögensentwicklung und Einkommensverteilung zu tun. Das mag in den USA noch exzessiver sein. Eine ähnliche Entwicklung ist auch in China festzustellen. Aber auch in Deutschland gibt es dafür eindeutige Fakten, die in der öffentlichen Debatte allerdings tabuisiert werden. Dabei muss das Penthouse der Gesellschaft seinen Beitrag leisten, damit es in diesem gesellschaftlichen Gebäude intakt zugeht, damit die Aufzüge funktionieren und die Leute nicht im Souterrain festgehalten werden.

Sie sind ein vermögender Mann. Wirft da nicht jemand mit Steinen, der im Glashaus sitzt?

Überhaupt nicht. Gerade weil ich in einem oberen Stockwerk der Gesellschaft wohne, rate ich denjenigen, die ich dort treffe, mehr gesellschaftspolitische Verantwortung zu entwickeln und sich nicht in einer Parallelwelt einzukapseln, in der man nicht auf öffentliche Güter angewiesen ist, weil man sich Bildung, Kultur, Sicherheit und Mobilität kaufen kann. Viele können das eben nicht und sind auf einen funktionierenden Staat angewiesen. Dazu bedarf er der Steuereinnahmen, weshalb Steuerbetrug kriminell ist.

In Österreich wird immer wieder eine Vermögensteuer diskutiert …

Ich bin mit der SPD zur Wiedereinführung einer Vermögensteuer angetreten und gescheitert. Im Übrigen gebe ich zu, eine verfassungskonforme Vermögensteuer zu erheben, die nicht die Betriebsvermögen trifft, ist sehr schwer. Denn eine Vermögensteuer ist natürlich eine Substanzbesteuerung, die mittelständische Unternehmen oder Familienunternehmen auch zahlen müssten, wenn sie null Euro Gewinn machen. Deswegen ist mein Ansatz inzwischen folgender: Konzentrieren wir uns auf die Erbschaftssteuer, vor dem Hintergrund eines enorm und schnell wachsenden Volumens von Erbschaften in Deutschland, die allein in diesem zweiten Jahrzehnt wahrscheinlich ein Volumen von 2,5 Billionen Euro erreichen werden. Ungefähr 250 Mil­liarden Euro werden in Deutschland pro Jahr privat vererbt, darauf zahlen wir im Augenblick eine Erbschaftsteuer von fünf Milliarden, das sind zwei Prozent! Ich stelle die Frage, ob man das nicht verdoppeln und darüber Einnahmen erzielen könnte, die im unterfinanzierten Bildungsbereich dringend benötigt werden.

Sie wollten als Finanzminister im Kampf gegen die Steuerflucht einst die Kavallerie in die Schweiz und nach Liechtenstein schicken.

Ich stehe zu den etwas undiplomatischen Formulierungen, weil ich Steuerbetrug aus der Ecke des Kavaliersdelikts herausholen und die Leisetreterei, die es dort im internationalen diplomatischen Verkehr gegeben hat, aufbrechen wollte. Es war der Zeitpunkt gekommen, an dem man Steuerbetrug als das bezeichnen musste, was er ist: ein krimineller Akt, der zum Schaden des Fiskus des jeweiligen Landes geht und damit zum Schaden der 99,9 Prozent ehrlichen Steuerzahler in unseren Ländern.

Apropos undiplomatisch: Sie nennen die Kanzlerin eine „bewährte, auf Sicht fahrende Chauffeuse“ …

Merkel wird von den Wählern als eine sichere Pilotin der Politik wahrgenommen. Sie ist die Mutter über alle deutschen Porzellankisten. Ich mache ihr gerne das Kompliment, dass sie viele Eigenschaften hat, die zu respektieren sind, aber ich vermisse den Gestaltungsanspruch, den Willen, diversen Ankündigungen auf Gipfelveranstaltungen Taten folgen zu lassen.

Haben Sie, abschließend, für Österreichs Sozialdemokraten noch einen Tipp?

Nein. Das würden die auch als unverschämt empfinden, von mir jetzt irgendwelche Ratschläge zu hören. Und dann auch noch öffentlich!

Vielen Dank für das Gespräch!

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