Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Weltklasse. Wie man sie erreicht und wie man sie hält

Juni 2017

Vorarlbergs Wirtschaft entwickelt sich schneller als die aller anderen österreichischen Bundesländer. Solche Erfolgsmeldungen sind wir seit vielen Jahren gewohnt. Was dabei vielleicht übersehen wird: Sie entwickelt sich „immer schneller schneller“. Das heißt, der Vorsprung, der schon über viele Jahre zu beobachten ist, wird immer größer: Neueste Schätzungen für 20161) ergeben einen Zuwachs des Vorarlberger Bruttoregionalprodukts um 2,4 Prozent, das ist der österreichische Spitzenwert. Für Österreich im Durchschnitt wird für 2016 ein Wachstum um 1,5 Prozent geschätzt, für Niederösterreich und Wien zwischen 1,1 und 1,2 Prozent. Das laufende Jahr 2017 dürfte eine europäische und österreichische Belebung bringen. Für Vorarl­berg wird abermals ein österreichischer Spitzenwert erwartet.

Das Tempo, mit dem sich die Vorarlberger Wirtschaft entwickelt, war in den ersten Jahren des laufenden Jahrhunderts (2000 bis 2008) bis zum Einsetzen der internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise um 7,5 Prozent höher als insgesamt in Österreich. Der Vorsprung der Vorarlberger Wirtschaft gegenüber der österreichischen stieg während der anschließenden acht Jahre (2008 bis 2016), in der sich vielerorts schwere Krisen abspielten, auf mehr als ein Viertel (27,1 Prozent). Es kommt noch besser: In den vergangenen fünf Jahren (2011 bis 2016) lag das Entwicklungstempo in Vorarlberg um ein ganzes Drittel (+33,3 Prozent) höher als jenes in Österreich. Und es übertraf damit auch die meisten Regionen Europas.
Der Anteil der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung Vorarlbergs an der österreichischen erhöhte sich damit auf 4,8 Prozent, mehr als das Doppelte des Burgenlands und neun Zehntel des Anteils von Kärnten.

Gleichzeitig mit diesen neuesten Daten des Bruttoregionalprodukts wurde vom WIFO gerade eine pionierhafte Analyse der weltweiten Verflechtung der Bundesländer vorgelegt.2) Auslandsexporte spielen für die Vorarlberger Wirtschaft eine bedeutendere Rolle als für jedes andere Bundesland. Exportumsätze erreichen in Vorarlberg ein Niveau von 88 Prozent der regionalen Wertschöpfung und übertreffen damit noch Oberösterreich (82 Prozent). Das hat zum Teil natürliche Gründe: Begrenztheit des eigenen regionalen Marktes und Entfernung von den Schwerpunkten der österreichischen Wirtschaft. Aber nicht nur: Die Industrie in Vorarlberg weist innerhalb Österreichs den höchsten Anteil an Exporten „mit erheblichem Technologiegehalt“ auf – 8,4 Prozent des Regionalprodukts werden damit erwirtschaftet (8,3 Prozent in Oberösterreich, 3,5 Prozent in Tirol). Ausländische Nachfrage generiert in Vorarlberg jedoch auch im Hochbau einen höheren Anteil an der heimischen Wertschöpfung als in jedem anderen Bundesland.

Wie kann derselbe Autor, der an dieser Stelle vor wenigen Wochen über die Problematik des Wirtschaftswachstums philosophisch-ökonomische Gedanken ausgebreitet hat, solche Daten so bejubeln? Als Wissenschaftler und auch als umweltbewusster Mitbürger würde ihm Skepsis besser anstehen. Die hat er aber keineswegs verdrängt: Die Daten sind keine Eintagsfliegen und der Vorsprung ist kein ewiges Naturgesetz. Künftige Rückschläge können nicht ausgeschlossen werden. Und was die Problematik der Umwelt und des Klimas anlangt, basieren die Erfolge der Vorarlberger Wirtschaft weit weniger auf der Verarbeitung von natürlichen Rohstoffen als auf innovativer Leistung, auf höherem Verarbeitungsgrad, qualitativer Höherentwicklung und Spezialisierung von Industrie, Handwerk, Dienstleistungen, Landwirtschaft und Software.

Eine gesunde Wirtschaft ist Voraussetzung für zielführende Umweltpolitik. Arme Länder sind dazu nicht in der Lage, ihnen fehlen die Mittel. Die globalen Umweltprobleme werden durch Forschung und Innovationen im Energie- und Verkehrssystem und Verbesserung der Bau- und Siedlungssubstanz gelöst werden müssen – zudem durch Verhaltensänderungen der Konsumenten und weitblickende globale Zusammenarbeit. Und in dieser Hinsicht braucht sich Vor­arlberg nicht zu verstecken. Die Vorarl­berger Erfolgsstory wäre nie eine geworden, wenn die wirtschaftliche Wertschöpfung nicht überdurchschnittlich ökologische Gesichtspunkte einschließen würde.

Bei den Olympischen Sommerspielen des Jahres 2004 in Athen erzielte das Team Großbritanniens, zur großen Enttäuschung des Landes, nur 30 Medaillen insgesamt, davon neun Goldene: weniger als Deutschland, Frankreich oder Italien und ein Drittel der Ausbeute der USA. Die Austragung der Spiele des Jahres 2012 war an London vergeben worden. Die britische Sportpolitik hätte es als nationale Schmach aufgefasst, wenn das Land auf Heimatboden keine bessere Bilanz aufweisen würde. Daher wurde ein wirkungsvoller Entwicklungsplan für den Leistungssport beschlossen. Die Sportlerin und Sportwissenschaftlerin Sue Campbell wurde zur Verantwortlichen berufen. In acht Jahren Aufbauarbeit bis London 2012 brachte sie es fertig, die Zahl der Goldmedaillen für britische Sportler auf 29 zu steigern. In Rio 2016 erzielte das Team mehr Goldene als China. Zur Anerkennung wurde Frau Campbell zum „House of Lords“-Mitglied auf Lebenszeit gewählt.
Was das mit der Leistung der Vorarl­berger Wirtschaft zu tun hat? Baroness Campbell hebt drei Einsichten hervor:

  1. Um Weltklasse zu erreichen, „lass niemals jemanden einen Plafond in deinen Himmel einziehen“.
  2. Frage dich und dein Team: Was könntest du erreichen, wenn alle Einschränkungen beseitigt wären? Was hindert dich daran?
  3. Weltklasse ist nicht ein Niveau, sondern ein Prozess, Tag für Tag. Im Gespräch mit dem Autor betonte sie: Weltklasse zu erreichen ist sehr, sehr schwierig. Schwieriger ist nur, Weltklasse zu halten.

Sie merken, worauf ich hinauswill: die Vorarlberger Wirtschaft bietet in weiten Bereichen Weltklasseleistungen. Ich muss meine Vorarlberger Landsleute nicht vor Selbstzufriedenheit oder vor Raunzen warnen. Das sind keine Vorarlberger Charaktereigenschaften. Viel eher gilt: „Nit lugg lo“. Aber nachzudenken, ob man vielleicht unbemerkt unter einem Plafond agiert, ob Erfolg vielleicht nicht nur auf eigene Leistung, sondern auch auf glückliche, aber veränderliche Umstände zurückgeht, ob sich in Zukunft die gegebenen Bedingungen ändern könnten, darf sich niemand ersparen, der auf Weltniveau angekommen ist.

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