Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

© Department of Defense

Als die Welt am Abgrund stand

Oktober 2017

Rolf Steininger (75), emeritierter Professor für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck, spricht im „Thema Vorarlberg“-Interview über die historischen Wurzeln des aktuellen Nordkorea-Konflikts – den Koreakrieg 1950 bis 1953.

In diesen Tagen ist viel die Rede vom nordkoreanischen Diktator und von dessen Drohungen gegen Südkorea und die USA. Werfen wir einen Blick zurück, zu den Anfängen dieses Konflikts?

Der Krieg auf der koreanischen Halbinsel ist nie mit einem Friedensvertrag beendet worden. Man hatte sich im Juli 1953 lediglich auf einen Waffenstillstand geeinigt; aber der Konflikt ging und geht latent weiter. Eine Wiedervereinigung von Nord und Süd ist tausendmal weiter entfernt, als das einst in Deutschland der Fall war; der 38. Breitengrad ist die bestbewachte und schlimmste Grenze, die es überhaupt noch auf dieser Welt gibt. Dabei war diese Grenze nie als Grenze gedacht …

Sie schreiben in Ihrem Buch*, dass Korea 1945 entlang des 38. Breitengrades geteilt wurde, ohne Rücksicht auf Land und Leute. Wie kam es zu dieser Entscheidung? Wer traf sie?

Es ging damals ausschließlich um die Entwaffnung der japanischen Armee in Korea. Kein Mensch hatte an eine Grenze gedacht. Das ähnelt in vielem der Situation in Deutschland. Wie war die Lage damals in Korea? Nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki war der Krieg gegen Japan praktisch beendet, die Rote Armee war Anfang August an der Ostküste Koreas 80 Kilometer nach Süden vorgestoßen. Bei den USA gab es zu diesem Zeitpunkt keine konkreten Pläne hinsichtlich der zukünftigen Behandlung Koreas, sie hatten auch noch keine Truppen dort. Es ging zunächst nur um die Entwaffnung der Japaner in Korea, im Norden durch die Sowjets, im Süden durch die Amerikaner. Die Frage war, an welcher Linie das stattfinden sollte. Dies wurde in der Nacht vom 10. auf den 11. August 1945 im Pentagon festgelegt. Zwei Mitarbeiter hatten dafür genau 30 Minuten Zeit. Zunächst wollten sie sich an den Provinzgrenzen orientieren, die Karte, die ihnen zur Verfügung stand, war jedoch dafür nicht geeignet, sie war schlicht zu klein. So entschlossen sie sich kurzerhand, den 38. Breitengrad als Demarkationslinie vorzuschlagen.

Drei Jahre später gründeten sich, unabhängig voneinander, die Staaten Nord- und Südkorea; wenig später ziehen die USA und die Sowjets ihre Truppen ab. Wer stand in Süd- und in Nordkorea an der Spitze?

Im Süden regierte Syngman Rhee – übrigens mit einer Österreicherin verheiratet –, kein besonders freundlicher Zeitgenosse, er war ein fanatischer Nationalist und Antikommunist. Rhee wollte die Wiedervereinigung Koreas, notfalls mit Waffengewalt – genauso wie der im Norden regierende Kim Il Sung, der Großvater des heutigen Diktators. In Kim Il Sungs Biografie ist vieles unbekannt, er ist aber höchstwahrscheinlich in der Sowjet­union geboren und aufgewachsen. Kim Il Sung war jedenfalls ein hundertprozentiger Kommunist, nach eigener Aussage war Stalins Befehl Gesetz für ihn.

Stalin! Sie schreiben ja, dass Stalin in den Folgejahren eine entscheidende Rolle spielte.

Ohne Stalin hätte es keinen Korea­krieg gegeben. Kim brauchte Stalins Zustimmung und Unterstützung, wurde deswegen mehrfach in Moskau vorstellig. Doch erst Anfang Februar 1950 kam Stalin Kims Bitten nach – er ließ drei neue nordkoreanische Divisionen mit modernen Waffen ausrüsten; befahl gleichzeitig, mit den Vorbereitungen für einen Präventivschlag zu beginnen und gab schließlich am 10. Juni endgültig grünes Licht für den Angriff – in der Hoffnung auf einen schnellen Sieg, noch bevor die Amerikaner eingreifen würden.

Am 25. Juni 1950 beginnt der Koreakrieg, mit dem Angriff der Nordkoreaner auf den Süden …

Die Südkoreaner werden geschlagen. In Japan stationierte US-Truppen, die zur Hilfe geeilt waren, sind kurz davor, geschlagen zu werden, sie halten nur noch einen Brückenkopf in Pusan. Korea droht zu fallen. In dieser Situation gelingt Douglas MacArthur, dem US-Oberbefehlshaber in Korea, am 5. September 1950 seine Superlandung im Rücken der Kommunisten – in Inchon, im Hafen von Seoul, entgegen jeder Wahrscheinlichkeit. Von nun an gilt MacArthur, der einzige Fünf-Sterne-General, als unangreifbar, er wird der „Hexer von Inchon“ genannt. Er kann nun machen, was er will; und er will Kommunisten schlagen. Er gibt den Befehl: Auf nach Norden. US-Truppen überrennen die Nordkoreaner, überschreiten den 38. Breitengrad und stehen am 21. November 1950 am Yalu, am Grenzfluss zu China. Doch wenige Tage später greifen Maos Rotchinesen an, mit insgesamt einer halben Million Mann, entgegen aller Voraussagen …

Entgegen aller Voraussagen?

Entgegen aller Voraussagen der CIA und entgegen aller Voraussagen von Mac­Arthur. Dabei war US-Präsident Truman wenige Wochen zuvor noch eigens 25.000 Kilometer weit geflogen, um sich auf Wake Island von „Gottes rechter Hand“ – so nannte der US-Präsident den General in einem Brief – die Situation erklären zu lassen. Truman fragt MacArthur, was die Chinesen machen werden, wenn US-Truppen den 38. Breitengrad nach Norden überschreiten sollten. Mac­Arthur antwortet: Die Chinesen haben den Zeitpunkt verpasst, wenn sie jetzt noch eingreifen, dann werden wir sie „abschlachten wie Tiere“. Er sagt wörtlich: „We will slaughter them.“ Doch dann schlagen die Chinesen eben doch zu, fügen den US-Truppen die schlimmste Niederlage zu, es kommt zum längsten Rückzug einer US-Armee in der Geschichte, zurück über den 38. Breitengrad. Und MacArthur telegrafiert nach Washington: Ein ganz neuer Krieg hat begonnen. Seine Grundhaltung lautet: Die Kommunisten haben uns den Krieg erklärt, also werden wir das jetzt beenden. Mit allen Mitteln. Im Krieg gab es für ihn keinen Ersatz für den Sieg. In Asien musste seiner Meinung nach der totale Krieg gegen den Kommunismus geführt werden. MacArthur fordert den Abwurf von Atombomben auf die chinesische Grenzregion …

Und der Koreakrieg droht die Welt in den atomaren Abgrund zu stürzen …

Die Welt stand in der Tat am Rand des atomaren Abgrunds. Zum ersten und bislang auch einzigen Mal in der Geschichte der USA wird am 15. Dezember 1950 der nationale Notstand ausgerufen, das hat es nie wieder gegeben, weder in der Kuba- noch in der Berlinkrise. Aber die Amerikaner haben halt keine Bombe geworfen.

Die Amerikaner haben „halt“ keine Bombe geworfen? Das klingt recht lapidar!

Es ist aber so. Man muss das in aller Deutlichkeit sagen. Sie hätten sie werfen können! Und nichts wäre passiert! Es hätte keinen atomaren Gegenschlag geben können. Die Russen hatten zwar die Bombe, konnten sie aber nicht transportieren. Zu diesem Zeitpunkt war das atomare Zerstörungspotenzial der USA dem sowjetischen noch weit überlegen. Doch Truman will die Bombe nicht werfen, er sagt, er will nicht verantwortlich sein für den Tod von zehn Millionen Menschen. Er sagt auch: Wenn wir sie werfen, wird es nach Hiroshima und Nagasaki so ausschauen, als hätten wir „die Atombombe für die gelbe Rasse reserviert“. Es wird vereinbart, dass ein ranghoher Militär vor Ort die Lage sondieren soll, bevor eine Entscheidung getroffen wird. Dieser Militär, General Collins, fährt nach Korea. Und was sieht er? Die Chinesen haben ihren Vormarsch gestoppt. Die Situation ist anders als von MacArthur geschildert. In dem Moment wird auch den Dümmsten in Washington klar: MacArthur hat falsche Telegramme nach Washington geschickt. Truman befiehlt MacArthur daraufhin, Waffenstillstandsverhandlungen zu beginnen. Doch der weigert sich, den Befehl auszuführen.

Er weigert sich?

Ja. MacArthur will stattdessen eine Ausweitung des Krieges, er fordert den Abwurf von 35 Atombomben auf chinesische Städte. Das wiederum wird in Washington abgelehnt. Es fällt der inzwischen viel zitierte Satz von General Bradley, die Ausweitung des Krieges gegen China wäre „der falsche Krieg am falschen Ort, zur falschen Zeit mit dem falschen Gegner“. Doch dass sich Mac­Arthur Trumans Befehl, Waffenstillstandsverhandlungen zu beginnen, widersetzt, ist einzigartig in der Geschichte der USA – es ist vorher und nachher nie wieder passiert, dass ein Militär den Befehl des Oberbefehlshabers, und das ist der US-Präsident, einfach nicht befolgt. Ein Präzedenzfall!

Hatten die USA einsatzfähige Bomben bereits vor Ort gebracht?

Erst Anfang 1951. Truman wies am 6. April die Luftwaffe an, einen B-29-Bomberverband mit zunächst neun einsatzfähigen Atombomben an Bord nach Okinawa und Guam zu verlegen, wohlweislich nicht in die Nähe von MacArthur!

Wie reagierte Truman auf MacArthurs Befehlsverweigerung?

Er beruft MacArthur am 11. April 1951 ab. Doch der ist zu dieser Zeit der populärste Amerikaner. Am 19. April redet MacArthur vor beiden Häusern des Kongresses, zum ersten Mal steht ein General auf dieser Rednertribüne, seine 34-minütige Rede wird 34-mal von Beifall unterbrochen. Bei seinem Triumphzug durch New York jubeln ihm wenig später Millionen Menschen zu, mehr als bei Eisenhowers Rückkehr bei Kriegs­ende 1945. Und in Korea? Ist man 1951 dort, wo man im Sommer 1950 war, an diesem 38. Breitengrad, keinen Meter weiter. Die nächsten zwei Jahre ging es an dieser Demarkationslinie hin und her, rauf und runter; das Interesse in den USA an diesem Krieg ging allerdings sukzessive verloren. Eisenhower gewann schließlich die US-Präsidentschaftswahl mit der Aussage „Ich beende den Koreakrieg“. Wobei man auch da wissen muss: Eisenhower und die US-Regierung hatten vor Stalins Tod im März 1953 bereits beschlossen, Atomwaffen einzusetzen!

Welche Strategie hatte Stalin denn verfolgt?

Seine Strategie war, die Amerikaner zwar nicht verbluten, aber dermaßen engagiert zu lassen, dass sie in anderen Bereichen ihre Verteidigung vernachlässigen. Für Stalin war Korea nach eigener Aussage eine nützliche Form der Erziehung, in einem Krieg, der wenig koste, mit Ausnahme von Menschen, die entbehrlich seien. Doch mit dem Tod Stalins endete auch der Koreakrieg, es kam zu den anfangs erwähnten Waffenstillstandsverhandlungen.

Wie wurde der Koreakrieg in Europa aufgenommen?

Die Westeuropäer beteiligten sich mit Soldaten am Koreakrieg, die Bundesdeutschen fürchteten eine ähnliche Entwicklung in Deutschland – es herrschte Kriegsfurcht –, während die DDR den Krieg für die eigene Propaganda nutzte: Korea als Probefall für eine US-Aggression in Europa, in DDR-Kindergärten wurde gesungen: „Korea Korea, der Krieg kommt immer näher“.

Der Krieg hatte weltweite Folgen – und führte zu regelrecht apokalyptischen Sorgen.

In der Tat! Korea war „der Wendepunkt des Kalten Krieges“, wie Truman es in seiner Abschiedsrede am 15. Januar 1953 formulierte. Mit dem Koreakrieg beginnt im eigentlichen Sinne der Rüstungswettlauf zwischen Ost und West. Ohne den Koreakrieg hätte es auch keine Wiederbewaffnung Deutschlands gegeben. Im Sommer 1950, im weltweiten Kampf gegen die Kommunisten und angesichts der drohenden Niederlage in Korea, knallen die US-Militärs den Franzosen ein Paket auf den Tisch: Entweder ihr akzeptiert die Grundsatzentscheidung zur Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland oder aber ihr bekommt von uns kein Geld mehr! Die Franzosen, die zuvor vehement gegen jede Art einer deutschen Wiederbewaffnung waren – deutsche Soldaten, fünf Jahre nach Ende des Weltkriegs waren für sie eine entsetzliche Vorstellung – geben klein bei. Im Dezember 1950 fällt die Grundsatzentscheidung zur Wiederbewaffnung! Auch die NATO wird erweitert, es wird beschlossen, das Bündnis auf 100 Divisionen aufzustocken, die Türkei, die sich in Korea Sporen erworben hat, wird als Mitglied aufgenommen; die NATO bekommt mit Eisenhower ihren ersten echten Oberbefehlshaber, sie wird von einem Papiertiger zu einem Militärbündnis.

Welche Überlegungen führten denn zur deutschen Wiederbewaffnung?

Die einzige Quelle, die die US-Militärs im Kampf gegen den Kommunismus, gegen die Sowjetunion, zu diesem Zeitpunkt noch nicht angezapft hatten, waren die Westdeutschen. Und die US-Militärs sagten sich: Wer hat Erfahrung im Kampf gegen die Russen? Die Deutschen. Und die US-Militärs sagten auch, der Deutsche sei der beste Soldat, der liebe das Handwerk. Eine der Bedingungen der Deutschen war übrigens, dass die Verteidigungslinie vom Rhein an die Elbe gelegt wird, also weiter nach Osten. Zuvor war die US-Strategie eine andere: Bei einem sowjetischen Angriff hätten die US-Truppen Europa aufgegeben, sich an die Peripherie zurückgezogen, also nach Großbritannien und Marokko – und von da aus versucht, Europa zurückzuerobern. Auch der spätere Vietnamkrieg hängt unmittelbar mit dem Koreakrieg zusammen: Fast gleichzeitig mit den US-Truppen in Südkorea landen die ersten amerikanischen Transportflugzeuge in Hanoi; der Kampf der Franzosen wurde über Nacht von einem schmutzigen Krieg zum Kampf gegen den Kommunismus. Der Koreakrieg war der Motor all dessen, was wir als Kalten Krieg bezeichnen und von all dem, was damit zusammenhing, vor allem die Aufrüstung in allen Bereichen.

Apropos Aufrüstung. Was wird im Nordkorea-Konflikt Ihrer Ansicht nach weiter geschehen?

Da kann man nur spekulieren. Alle bisherigen US-Präsidenten seit Truman hatten dieses Nordkorea-Problem vor Augen gehabt und nicht lösen können; es wird – auch aus Sicht des Historikers – interessant sein, wie sich das weiterentwickelt. Ist es möglich, diesen nordkoreanischen Irren zu stoppen? Oder muss sich die Welt daran gewöhnen, eine weitere Atommacht zu haben? Kann es sich eine Macht wie die USA bieten lassen, einer ständigen Bedrohung ausgesetzt zu sein? Für mich stellt sich allerdings auch die Frage, wie es möglich ist, dass ein Land, das durch offizielle Sanktionsentscheidungen der UNO offiziell von fast allen Ressourcen der Welt abgeschnitten worden ist, eine solche hochindustrialisierte Entwicklung nehmen und Atombomben sowie Raketen in dieser Form bauen kann. Alleine könnten die das nicht, alleine wäre Kim schon längst fertig, davon bin ich überzeugt. Also: Wer spielt da mit? Wer steckt da dahinter? Sind das die Chinesen? Und was ist deren Ziel?

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Zur Person
Rolf Steininger * 2. August 1942 in Plettenberg, ist ein deutsch-österreichischer Historiker und emeritierter Universitätsprofessor für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck. Von 1984 bis 2010 leitete er das von ihm aufgebaute dortige Institut für Zeitgeschichte. Der renommierte Wissenschaftler, Autor zahlreicher Publikationen, hatte unter anderem auch als Gastprofessor an den Universitäten Tel Aviv, Queensland, New Orleans und Bozen gelehrt, er war außerdem als Gastwissenschaftler in Saigon, Hanoi und Kapstadt. Dem Interview zugrunde liegt Steiningers Buch „Der vergessene Krieg, Korea 1950 – 1953, Olzog Verlag, München 2006, 2. Auflage 2009; mit diesem Werk hatte Steininger die erste deutschsprachige Gesamtdarstellung des Koreakriegs veröffentlicht. Mehr unter www.rolfsteininger.at

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