Ulrich H.J. Körtner

Der Ast, auf dem wir sitzen

Dezember 2015

Ein Plädoyer für Verantwortungsethik in der Flüchtlingspolitik.

In seinem berühmten Vortrag „Politik als Beruf“ aus dem Jahr 1919 hat der Soziologe Max Weber die Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik eingeführt. Während der Gesinnungsethiker die moralische Qualität des Handelns in erster Linie an den moralischen Prinzipien und Absichten bemisst, fragt der Verantwortungsethiker auch nach den möglichen Folgen seines Tuns.

In der öffentlichen Debatte darüber, wie Europa und seine Mitgliedsstaaten auf den massenhaften Zustrom von Flüchtlingen reagieren sollen, prallen gesinnungs- und verantwortungsethische Sichtweisen aufeinander. Die anfängliche Euphorie, mit der hierzulande, vor allem aber in Deutschland, die über den Balkan kommenden Flüchtlinge willkommen geheißen wurden, und die bewundernswerte spontane Hilfsbereitschaft der Bevölkerung sind Ausdruck einer gesinnungsethischen Haltung. Gesinnungsethisch argumentieren auch diejenigen, die keine Begrenzung des Zuzugs von Flüchtlingen und sonstigen Migranten akzeptieren wollen. Das Motto „Kein Mensch ist illegal – Refugees welcome!“, unter dem die Großdemonstration am 3. Oktober in Wien stand, ist Gesinnungsethik pur. Um mögliche Folgen für die Gesamtgesellschaft, für das politische Gemeinwesen – und damit womöglich auch für die Flüchtlinge selbst – macht sie sich freilich keine ausreichenden Gedanken.

Verfechter dieser politischen Linie treten nicht selten mit einem hochmoralischen Anspruch auf, um nicht zu sagen mit einem Gestus der moralischen Überlegenheit. Wer auf mögliche Pro­bleme bei der Bewältigung der anstehenden Integrationsaufgaben hinweist, auf Verwerfungen, die im Sozialsystem entstehen können, weil es zu einem Verteilungskampf im unteren Bereich der Gesellschaft kommt – etwa wenn es um billigen Wohnraum geht –, läuft Gefahr, als Rechter und Rassist beschimpft zu werden. Der angesehene deutsche Historiker Heinrich August Winkler, Mitglied der SPD und ganz gewiss kein Feind der offenen Gesellschaft, kritisiert – ich meine zu Recht – die moralische Überheblichkeit, mit der Deutschland in Europa seine anfängliche Linie in der Flüchtlingspolitik zum Maß aller Dinge erklärt hat.

Eine verantwortungsethische Position kann hingegen nicht darüber hinwegsehen, dass gerade der offene Verfassungsstaat ohne Grenzen und Begrenzungen nicht bestehen kann. Damit soll keineswegs einer Politik der Abschottung oder der Aushöhlung des Asylrechts das Wort geredet werden. Der deutsche Jurist und ehemalige Verfassungsrichter Udo di Fabio gibt zu bedenken: „Gerade ein Staat, der für Zuwanderung offen ist – und einen solchen wünsche ich mir –, braucht drei wesentliche Elemente, damit ein gutes Zusammenleben gelingen kann: Kontrolle über das Staatsgebiet, über die Zusammensetzung der Bevölkerung und über eine einheitliche Staatsgewalt.“

Auf solcher Grundlage eine aktive und schlüssige Flüchtlings- und Einwanderungspolitik zu gestalten statt nur die Krise zu verwalten, daran mangelt es hierzulande ebenso wie in Deutschland. Die sogenannte Flüchtlingskrise ist vor allem eine hausgemachte Politikkrise. Die Behauptung etwa, die Außengrenzen eines Staates ließen sich heutzutage nicht wirksam kontrollieren, kommt einer Kapitulation des Rechtsstaats gleich, auf dessen Akzeptanz und Verlässlichkeit doch gerade jene angewiesen sind, die bei uns Schutz suchen. Ohne funktionierenden Rechtsstaat kein Asylrecht.

Der handlungsfähige Rechtsstaat ist auch die entscheidende Voraussetzung für genau jene Zivilgesellschaft, die sich gesinnungsethisch für Flüchtlinge und ihre Rechte engagiert. Es wäre daher demokratiepolitisch fatal, wollte die Zivilgesellschaft jenen Ast absägen, auf dem sie sitzt.

Es stimmt zwar, dass die gegenwärtige Flüchtlingsproblematik nach einer gesamteuropäischen Lösung verlangt. Die Gründung und Weiterentwicklung der EU hat aber bislang keineswegs zum Ende des Nationalstaats und seiner Institutionen geführt. Darum lässt sich nicht alle Verantwortung auf Brüssel schieben.

Wir brauchen außerdem ein modernes Einwanderungsrecht. Auch wenn sich Asyl- und Einwanderungspolitik nicht immer strikt voneinander trennen lassen, müssen sie doch deutlich voneinander unterschieden werden. Ein Einwanderungsland braucht klare Regeln, die freilich auch die Abweisung von Menschen einschließen. Solche Regeln sind keine hinreichende, wohl aber eine notwendige Voraussetzung für gelingende Integration.

Schon lange vor dem Anstieg der Flüchtlingszahlen haben die Regierenden hierzulande den Eindruck vermittelt, ihrer Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Die Art und Weise, in der Bund, Länder und Gemeinden die Verantwortung schon hin- und hergeschoben haben, als es noch darum gegangen war, weitaus weniger Flüchtlinge als jetzt menschenwürdig unterzubringen, kann man nur als organisierte Verantwortungslosigkeit bezeichnen. Das eigene politische Versagen zu leugnen und Wählerverluste wie in Oberösterreich auf die Flüchtlingsströme zu schieben, für die man ebenso wenig könne wie für eine Naturkata­strophe, ist so peinlich wie dreist. Die Hauptlast tragen in Österreich nach wie vor kirchliche und säkulare Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz sowie private Initiativen.

Die politische Krise ist keineswegs bloß eine Kommunikationskrise. „Vorhandene Sorgen und Ängste ernster nehmen“ und „Das Ohr näher am Wähler haben“: So spricht man mit Kindern, aber nicht mit mündigen Bürgern. Wer freilich wie die FPÖ aus dem Unbehagen und den Ängsten der Bevölkerung politisches Kapital schlagen will, ohne tragfähige Lösungen anzubieten, und die Grundprinzipien einer offenen Gesellschaft infrage stellt, handelt erst recht politisch verantwortungslos.

Die EU-Staaten – aber nicht nur sie – sind dringend aufgefordert, das Nahrungsmittelprogramm der Vereinten Natio­nen finanziell ausreichend auszustatten, damit endlich wieder eine menschenwürdige Versorgung in den Flüchtlingslagern in den Nachbarländern Syriens gewährleistet ist. Auch sollten die rechtliche Möglichkeit geschaffen werden, schon in den Herkunftsländern Asylanträge stellen zu können, um Schleppern das Handwerk zu legen. Doch das wird ohne Quoten und folglich ohne Aufnahmegrenzen nicht gehen. Das ethische Kernproblem der Flüchtlingspolitik besteht im Unterschied zwischen dem universalen Recht auf Asyl und seiner Umsetzbarkeit auf der einzelstaatlichen Ebene. Auch in der Flüchtlings- und Asylpolitik gilt der Grundsatz: „Ultra posse nemo obligatur – über das Maß seiner Möglichkeiten hinaus kann niemand verpflichtet werden.“ Wann die Grenze des Leistbaren erreicht ist, ist im Einzelfall zu prüfen und wird sicher kontrovers beurteilt werden. Aus verantwortungsethischer Sicht werden wir aber um diese Frage nicht herumkommen.

Kommentare

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Ein ausgezeichneter Artikel der sich jedermann verinnerlichen sollte.