Ein Gefühl von Freiheit: Erinnerungen an Vorarlberg 1993
Als meine Eltern mit dem Ende der DDR endlich die Freiheit besaßen, überall hinreisen zu können, entschieden sie sich für die Alpen. Im Sommer 1993 führte die Reise nach Vorarlberg .
Meine Familie stammt aus Cottbus. Die Gegend ist flach, die höchste Erhebung liegt bei gut 200 Metern. Es ist ein schöner Landstrich. Dennoch packt einen mitunter das Fernweh. Berge, beispielsweise, übten eine ungeheure Faszination auf meine Eltern aus. Nicht die USA, nicht die Karibik, sondern die Alpen waren ihr Traumziel.
Doch als Bürger der DDR konnten sie nicht frei entscheiden, wo sie ihren Urlaub verbringen wollten. „Urlaub“ war ein Politikum, das den Regeln von Staatsräson und staatssozialistischer Planwirtschaft folgte. Das Recht auf Erholung und jährlichen Urlaub war in der Verfassung festgeschrieben. Dabei ging es jedoch nicht um die Möglichkeit individueller Selbstverwirklichung durch die Entdeckung der Welt, vielmehr sollte die kollektive und planmäßige Urlaubszeit die „Produktivkraft Mensch“ stärken. Urlaubsreisen wurden zentral verwaltet und staatlich subventioniert. Ein Anspruch darauf bestand nicht. Im Gegenteil: Urlaubsplätze waren rar und es galt, sich frühzeitig für einen solchen zu bewerben.
Die überwiegende Mehrzahl der Plätze stellten der Feriendienst der Einheitsgewerkschaft FDGB und vor allem deren Vertretungen in den Betrieben zur Verfügung, wobei sich die Qualität der Ferienheime und die Attraktivität der Urlaubsregionen stark unterschieden. Beliebt, und deshalb nie ausreichend, waren die Ferienplätze an der Ostsee. Die Platzvergabe war zudem ein kalkuliertes Anreiz- und Belohnungsinstrument, um etwa hohe Leistungen am Arbeitsplatz, gesellschaftspolitisches Engagement und lange Betriebszugehörigkeit zu honorieren. Das Gefühl von Kontrolle, gar Gängelung oder Ausgeliefertsein blieb in Anbetracht feststehender Reisezeiten und der unvermeidbaren Gemeinschaftsverpflegung nicht aus. Dennoch waren die meisten Menschen froh, überhaupt einen Urlaubsplatz erhalten zu haben. Alternativen dazu boten lediglich der staatlicherseits geduldete, aber stark eingehegte und kontrollierte Campingurlaub und privat organisierte Reisen zu Freunden oder Bekannten.
Die Geschichte der friedlichen Revolution in der DDR ist inzwischen gut erforscht. Für die Protestierenden im Herbst 1989 war das Thema Reisefreiheit, neben der Ermüdung angesichts permanenter Versorgungsmängel und politischer Unfreiheit, zentral und stand in den Forderungskatalogen für Reformen. Im November 1989 spitzte sich die politische Situation zu, die Regierung gab dem Druck der Masse schließlich nach und erklärte, Reisen ins Ausland zu vereinfachen. Dass aufgrund einer ganzen Kette von Missverständnissen und Kommunikationspannen gleich die Mauer und schließlich die DDR abgeschafft wurden, ist mehr als nur eine Fußnote der Geschichte.
Für meine Eltern eröffnete sich damit im wahrsten Sinne des Wortes eine neue Welt. Ihren ersten Urlaub in den Bergen im Jahr 1991 gingen sie vorsichtig, ja geradezu verzagt an: Ziel war Walchsee, gleich hinter der Grenze. Neugierig waren sie auf die Landschaft, auf die Menschen. Aufregend war es und fremd. Gefragt, warum dorthin, antwortete mein Vater: „Na, weil wir anders nicht hingekommen sind, das war ja für uns fremdes Ausland bis zur Wende. Du konntest ja nicht nach Österreich, genauso wenig wie nach Deutschland oder sonst wohin fahren. Und Österreich war deutschsprachig. Wir kannten ja auch keinen Brocken Englisch oder sonst eine Sprache. Und dort konnte man sich mit den Leuten unterhalten, und man war ja auch ein bisschen unsicher.“
Es war ein erstes Tasten und Ausprobieren. Im Jahr 1993 sollte es nun „richtig“ in die Berge gehen, für zwei Wochen nach Lech, nach Vorarlberg. Die Entscheidung für diese Region ist wohl meinen Großeltern zu verdanken, die dort im Jahr zuvor gewesen waren und seitdem vom Walsertal schwärmten. Die Vorbereitung unseres Urlaubs erstreckte sich vor allem auf die Planung der Reiseroute und die Organisation des Kofferraums unseres Autos, in dem neben Kleidung und Reiseproviant jede Menge haltbare Lebensmittel Platz finden mussten – wohl auch in der Erinnerung an die uns sehr hoch erscheinenden Preise bei unserer ersten Reise nach Österreich. Auswärts haben wir kaum gegessen, die österreichischen Küchenlegenden jedoch, Kaiserschmarrn und Palatschinken, haben wir natürlich probiert.
Unsere Unterkunft war eine Ferienwohnung. Das Haus stand einzeln unterhalb einer Straße, an den Fenstern Blumenkästen mit Geranien, rundherum Bergwiese, sechs Kühe. Unten wohnten die Gastleute, oben wir. Das Ehepaar nahm uns freundlich auf. Wir fühlten uns willkommen. Wir Kinder durften auf dem Heuboden spielen und in der Küche das frisch gebackene Brot kosten. An das ungewohnte „Grüß Gott“ gewöhnten wir uns schnell.
Wir entschieden täglich neu, was wir sehen, wohin wir wandern wollten. Es regnete viel, was uns nicht davon abhielt, jeden zweiten Tag einen Gipfel zu erklimmen: Hoher Fraßen, Mittagsspitze ... Deutlich erinnern wir uns an den Glattmar. Es war ein trüber, kalter Tag. Neblig. Schnee und Nässe sorgten für Glätte. Furchtlos stapfte ich den letzten Grat hinauf. Angesichts der Höhe und des steil abfallenden Berges war ich auf dem Abstieg wesentlich furchtsamer. Meine Mutter legte sogar einen Salto hin – Gott sei Dank auf die flach abfallende Seite, es ist nichts passiert. Mit seinen circa 1900 Metern zählt der Berg für alpine Tourengänger wahrscheinlich als Spaziergang. Für uns jedoch war es ein unglaubliches Erlebnis. Überhaupt konnte uns nichts aufhalten. An anderen Tagen erkundeten wir die Region und viele Ziele über Vorarlberg hinaus. Einmal vor Ort, wollten meine Eltern alles sehen, alles erkunden und erfahren. Wir besuchten Innsbruck und Vaduz, fuhren nach Lindau und zum Pitztaler Gletscher. Manchmal entdeckten wir auch unterwegs interessante Orte, wie den Silvretta-Stausee. Die vielen Kilometer, die wir zurücklegten, spielten keine Rolle. Mein Vater liebte die Serpentinen.
Meine Eltern sind noch immer begeistert von den Alpen und ihre Augen leuchten, wenn sie von damals erzählen. Noch heute erklärt meine Mutter: „Als ich die Alpen das erste Mal gesehen habe, das ist ein Bild, das ich nie vergessen werden. Nie!“ Jeder dieser Urlaube verbindet sich mit ganz besonderen Erinnerungen. Selbst entscheiden zu können, wohin die Reise geht, den Tag zu gestalten, wie es einem gefällt, ein hohes Maß an Privatheit, das für sich und selbstbestimmt sein und nicht zuletzt das Gefühl von Freiheit genießen sie noch immer.
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