J. Georg Friebe

Geboren 1963 in Mödling, aufgewachsen in Rankweil. Studium der Paläontologie und Geologie in Graz mit Dissertation über das Steirische Tertiärbecken. Seit 1993 Museumskurator an der Vorarlberger Naturschau bzw. der inatura Dornbirn.

(Foto: © J. Georg Friebe)

Eine eisige Geschichte

Februar 2017

Eine weiß erscheinende Decke überzieht im Winter unser Land: Die Kristalle des Wassers – eine Freude dem Auge (und den Sportlern), ein Ärgernis den Fußgängern und Autofahrern.

Wasser kristallisiert bei 273,15 Kelvin – so lautet die heute weltweit gültige Definition. Referenzwert ist der absolute Nullpunkt, der nie erreicht und schon gar nicht unterschritten werden kann. Nur die Annäherung an jene Temperatur ist möglich. Die Schrittweite der Kelvin-Skala aber ist einer anderen Temperaturskala entlehnt.

Wasser kristallisiert bei 100 Grad, und es siedet bei 0 Grad – so formulierte es im Jahr 1742 der Schwedische Gelehrte Anders Celsius. Er war nicht der einzige, dessen Temperaturskala sich am Wasser orientierte. Bereits um 1700 hatte Isaac Newton diese beiden Fixpunkte für seine Skala genutzt. Doch er begnügte sich mit 33 Schritten, reichlich wenig für genauere Messungen. René-Antoine Ferchault de Réaumur teilte das Intervall im Jahr 1730 immerhin schon in 80 Schritte, und zwei Jahre später schlug Joseph-Nicolas Delisle gar 150 Schritte für die Temperaturdifferenz zwischen Gefrier- und Siedepunkt des Wassers vor. Doch das Dezimalsystem sollte sich durchsetzen. Etwas unpraktisch war der Vorschlag von Celsius schon: Bei Erwärmung nahm nach seiner Definition die Temperatur ab. Carl von Linné erkannte 1744 sowohl Potenzial wie auch Unzulänglichkeit der Skala seines Freundes und drehte sie kurzerhand um. Ab diesem Zeitpunkt gilt der Gefrierpunkt des Wassers als Nullpunkt der nach Celsius benannten Temperaturskala.

Kristallisiert Wasser immer bei 0 °C bzw. 273,15 K? „Selbstverständlich“, sind wir versucht zu sagen, denn sonst wäre dies ja ein äußerst unzulänglicher Referenzpunkt für die Temperaturmessung. „Ja, aber …“ trifft die Sache besser: Entscheidend ist auch der Luftdruck, und vor allem das Vorhandensein von Kristallisationskeimen. Sollen sich die Moleküle bei Unterschreiten einer kritischen Temperatur zu einem starren Muster ordnen, so brauchen sie irgendetwas, an das sie sich anlagern können. Wasser ist in natürlichem Zustand immer verunreinigt, und dies genügt meist als Auslöser für die Bildung von Eis. Fehlen aber solche Kristallisationskeime, so kann unterkühltes Wasser auch bei Temperaturen bis zu 48 Grad unter Null nicht gefrieren.

In den Wolken beginnt die Kristallisation bei minus 12 °C. Dort dienen Staubteilchen als Keime. An ihnen lagert sich unterkühltes Wasser an. Durch seine Masse fällt der Kristall und nimmt dabei weiteres Wasser auf. Und auch Wasserdampf aus der Luft kann – unter Umgehung der flüssigen Phase – direkt zu Eis werden.

Eis ist ein Mineral. Freilich ein etwas seltsames, und doch folgt es den Gesetzmäßigkeiten der Mineralogie. Schon die Moleküle des Wassers entsprechen einem vorgegebenen Muster. Aber sie sind gegeneinander beweglich. Sie schließen sich zwar in Ansammlungen (Clustern) zusammen, die aber im beinahe selben Augenblick wieder zerfallen. Beim Gefrieren verlieren sie ihre Beweglichkeit und ordnen sich nach einem fixen Bauplan zu einem unveränderlichen Kristallgitter. Sie sind nun unverrückbar, und erst Wärme kann ihre Bindungen im Kristall wieder lösen: Der Kristall schmilzt.

Wie jedes Kristallgitter hat auch das des Eises seine eigene Symmetrie. Eiskristalle werden dem hexagonalen Kristallsystem zugeordnet – sie sind immer sechseckig. Und doch finden wir unter ihnen die unterschiedlichsten Formen. Denn Schneeflocken sind keine perfekten Kristalle. Je schneller ein Mineral kristallisiert, je mehr es dabei gestört oder von anderen Mineralen behindert wird, umso größer ist die Abweichung von der idealen Form. Auch die Temperatur spielt eine Rolle: Ist es kälter, so entstehen plättchenförmige Eiskristalle, bei höheren Temperaturen sechsarmige Sterne. Deren Regelmäßigkeit und ihre ausgeprägte Symmetrie erstaunen. Alle sechs Arme der Sterne sind gleich, ja selbst in den Details ihrer Verzweigungen unterscheiden sie sich kaum. Ihr Wachstum folgt bevorzugten Richtungen innerhalb der Grundstruktur des Kristallgitters. Die Schneeflocke ist klein genug, dass auf allen Seiten die gleichen Bedingungen herrschen. Jede Störung wirkt sich in alle sechs Richtungen gleich aus. Erst minimale Unterschiede in der Mikroumgebung verursachen kleinste Abweichungen zwischen den Ästen. Aber bereits die Distanz unter den einzelnen Kristallisationskeimen genügt, dass jede Schneeflocke in einer anderen Umgebung gebildet wird – daher kann es niemals zwei identische Flocken geben.

Und doch ist auch die „Bilderbuch-Schneeflocke“ die Ausnahme. Schneeflocken sinken nicht ungestört zu Boden. Schon Turbulenzen in den Wolken sorgen dafür, dass sie teilweise wieder aufschmelzen, sich zu größeren Gebilden verkleben. Fällt der Schnee dann langsam zu Boden, so sorgt die Luftströmung um die Flocke dafür, dass ihre flache Seite nach unten zeigt. Über ihr aber können andere Flocken quasi im Windschatten schneller fallen, bis sie schließlich kollidieren und verklumpen.

Liegt der Schnee dann am Boden, so sorgt die Lichtbrechung an den eigentlich durchsichtigen Kristallen für die weiße Pracht.

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