Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Da ist Vorarlberg der Gegenbeweis“

Oktober 2023

Seit mittlerweile neun Jahren erforscht der japanische Wissenschaftler Kenji Yamamoto Vorarlberg. Im September war der mittlerweile emeritierte Universitätsprofessor (71) nun wieder einmal für drei Wochen im Land. Yamamoto besprach sich mit Unternehmern, Politikern und sozial engagierten Menschen, besuchte diverse Betriebe, Einrichtungen und Gemeinden. Im Interview sagt der Wissenschaftler, der an unserem Land sehr interessiert ist, und über vieles hierzulande Bescheid weiß: „Der Umstand, dass die Menschen hier auf Augenhöhe miteinander sprechen, ist ein Schlüssel für die Innovationskraft der Region.“ 

Herr Professor Yamamoto, Sie erforschen Vorarlberg seit langem, waren jetzt wieder im Land, welche neuen Erkenntnisse haben Sie denn gewonnen?
Mir ist aufgefallen, dass auch Vorarl­berg unter einem Facharbeitermangel leidet, nicht nur in der Wirtschaft, auch in sozialen Einrichtungen und in anderen Bereichen. Das hat mich überrascht. Ich hatte eigentlich angenommen, dass die notwendigen Fachkräfte in Vorarlberg in ausreichendem Maß – mit Ausnahme universitärer Studien – selbst ausgebildet werden. Das war ja eigentlich immer eine Stärke der Vorarlberger Wirtschaft, im Gegensatz zu anderen Regionen. Mir sind aber auch andere Sachen aufgefallen: Dass beispielsweise das Bewusstsein für den Klimawandel in Vorarlberg wesentlich stärker ist als bei uns in Japan. Ich habe von den Klima-Aktivisten, von ihren Protesten gelesen und gehört, die teilweise gegen das Gesetz verstoßen. Das gibt es bei uns nicht. Die Japaner sind sehr leise, sie protestieren nur sehr selten. In Japan soll man sich verhalten, wie sich die Mehrheit verhält. Bei uns heißt es, wenn man unter etwas nicht leiden möchte, sollte man unter einem großen Baum Schutz suchen. ‚Großer Baum‘ ist eine Metapher für Macht bei uns in Japan.

Können Sie den Protesten der vorwiegend jungen Menschen denn nichts abgewinnen?
Ich verstehe das Motiv. Wir müssen den Klimawandel stoppen. Aber die Verstöße gegen das Gesetz sind nicht gut. Die jungen Menschen sollten andere Formen der Protests finden.

Was haben Sie noch entdeckt an Neuem?
Mir ist aufgefallen, dass in Vorarlberg viel „auf Augenhöhe“ miteinander gesprochen wird. Ich habe diesen Ausdruck in Gesprächen zuvor noch nie gehört. Ich hatte nur einmal davon gelesen, in einer Unternehmenszeitschrift von Bachmann electronic. Dort hatte deren Gründer Gerhard Bachmann gesagt, seine Firma sei auch deshalb so erfolgreich geworden, weil er sowohl mit seinen Kunden und Lieferanten als auch mit seinen Mitarbeitern auf Augenhöhe spreche. Ich habe nun lange darüber nachgedacht und glaube mittlerweile, dass dieser Ausdruck ein sehr wichtiger Faktor für den Erfolg der Vorarlberger Unternehmen ist. 

Wie meinen Sie das?
Viele Leute verstehen unter Innovation nur technologischen Fortschritt. Aber technologischer Fortschritt ist nur eine Facette von Innovation. Innovation ist viel mehr, sie hat nach Joseph Alois Schumpeter eine wesentlich breitere Bedeutung. Um innovativ sein zu können, muss man zuerst einmal gute Ideen haben; und um gute Ideen entwickeln zu können, muss man offen miteinander kommunizieren. Diese offene Kommunikation ist aber nur möglich, wenn man auf Augenhöhe miteinander spricht. Das ist in Vorarlberg der Fall, das ist typisch für die Vorarlberger. Ich weiß nicht, ob das auch für alle Österreicher und Österreicherinnen gilt, ich weiß nicht, ob das auch in Deutschland der Fall ist. Meine Erfahrung ist da etwas zu gering. Aber in den insgesamt sieben Jahren, in denen ich unter anderem in München, in Duisburg und in Heidelberg gewohnt habe, habe ich diesen Ausdruck jedenfalls nie gelesen und nie gehört. Ich habe vor etwa 50 Jahren begonnen, Deutsch zu lernen, aber dieser Ausdruck war mir neu.

Gute Ideen sind demnach das Resultat offener Kommunikation?
Es ist ein wichtiger Faktor. Wir haben ein altes chinesisches Sprichwort übernommen, das besagt: ‚Wenn sich drei Menschen treffen und offen sprechen, kann diese Gruppe dieselbe Weisheit wie der buddhistische Weisheitsgott erlangen.‘ Weisheit! Nicht nur Wissen! Weisheit ist etwas anderes als Wissen! Das steht zumindest in meinem deutsch-japanischen Wörterbuch (schmunzelt). Man könnte Weisheit natürlich auch allein erreichen, man könnte auch allein gute Ideen entwickeln, aber die offene Kommunikation mit anderen Menschen ist sicherlich der bessere Weg …

Sie sagten bereits 2019, Japan müsse vom Modell Vorarlberg lernen.
Es ist die Frage, wie eine ländliche Region abseits der Metropolen so erfolgreich sein kann. In Japan leiden ländliche Räume seit mehr als 30 Jahren unter einer Schrumpfung und einer Flaute. Jetzt weiß ich zwar, dass hier nicht wenige Menschen denken, das Rheintal und der Walgau seien ein urbaner Raum; aber aus meiner Sicht, aus ostasiatischer Sicht, ist das nicht der Fall: Vorarlberg ist kein urbaner Raum, Vorarlberg ist ein ländlicher Raum. Auch wenn man sagt, Metropolen wie Zürich oder München seien mit dem Auto in eineinhalb oder zwei Stunden zu erreichen, ist das jedenfalls zu weit für Tages-Pendler. Trotzdem …

Ja, bitte?
Trotzdem ist Vorarlberg ein wirtschaftlich erfolgreiches Land, ein Land, das zudem keine monokulturelle, sondern eine wirtschaftlich sehr breite Struktur hat, mit hochentwickelten technologischen Unternehmen, Lebensmittelproduzenten, Holzbaukunst und vielem mehr. Und die Landschaft ist so schön! Im Übrigen: Ich habe einen begrenzten Überblick, aber ich konnte bislang noch kein schlechtes Wohnviertel in Vorarlberg entdecken. Und das ist ein großer Unterschied zu deutschen Städten, ich habe das mit eigenen Augen gesehen. Also: Vorarlberg ist von Metropolen doch weiter weg, Vorarlberg ist ein ländlicher Raum und hat doch so viele verschiedene, sehr gut entwickelte Unternehmen in sehr verschiedenen Industriebereichen, und auch im sozialen Bereich. Ich will erfahren, wie das gelingen konnte. 

Sie wundert also, dass eine ländliche Region wirtschaftlich derart erfolgreich sein kann.
Ja. Weil fast alle renommierten Wissenschaftler, die sich mit Regionalwirtschaft oder Wirtschaftsgeografie beschäftigen, behaupten, dass nur Metro­polen oder Metropolregionen wirtschaftlich erfolgreich sein könnten, nicht aber der ländliche Raum. Und da ist Vorarlberg quasi der Gegenbeweis, dass diese Theorie nicht stimmt. Wie wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Theorien nie etwas zu einhundert Prozent erklären können. Das ist unmöglich. Wirtschaft, Gesellschaft und Politik sind prinzipiell schwer zu erklären; sie sind jedenfalls schwerer zu erklären als beispielsweise naturwissenschaftliche Gegebenheiten. Die Wahrheit zu verstehen, ist enorm schwierig; wir sollten verschiedene Gedanken und verschiedenes Wissen lernen und dann selbstständig denken. Und dabei mit anderen Leuten sprechen, vor allem über die Frage: Wie sollen wir die Zukunft gestalten?

Aus dem einstigen Textilland entwickelt sich eine breit diversifizierte Wirtschaft.
Es gibt auch heute noch Stickerei-Unternehmen in Vorarlberg, die hochwertige, luxuriöse Stoffe produzieren, Getzner Textil beispielsweise. Aber diese Entwicklung, von der Sie sprechen, die ist sehr wichtig. Ein typisches Beispiel dafür ist Rondo Ganahl. Die Unternehmensgeschichte zeigt, wie sehr sich dieses von der berühmten Feldkircher Textilunternehmerfamilie Ganahl gegründete Unternehmen im Laufe der Zeit weiterentwickelt hat, in einer sehr interessanten Evolution. Mit solchen Beispielen wurde schließlich die breite Struktur der Vorarl­berger Industrie verwirklicht.
In einer ständigen Weiterentwicklung …
Ja, in einer ständigen Weiterentwicklung. Es waren solche Evolutionen wie die von Rondo Ganahl, die letztlich zur breiten Struktur der Vorarlberger Industrie führten. Für eine Regionalwirtschaft, für eine Region ist es wichtig, nicht für immer dieselben Verhältnisse zu haben. Man muss auf die Veränderung des Weltumfeldes reagieren. Im Übrigen ist Vor­arlberg auch dank seiner Geografie glücklich. Vorarlberger Unternehmen haben vom technologischen Fortschritt der Nachbarn zunächst gelernt, dann ihre Produkte aber weiter verbessert. Zunächst für sich selbst, für das nähere Umfeld – und dann für die Nachbarländer. Und so vergrößerten sich allmählich ihre Märkte, europaweit und sogar weltweit. Wichtige und erfolgreiche Unternehmen waren früher Grenzpendler in die Ostschweiz oder nach Liechtenstein. Ein wichtiges Beispiel ist Alwin Lehner. Das weiß ich aus der Lektüre der Unternehmensgeschichte von Alpla.

Was steht da?
Alwin Lehner war Grenzgänger in die Ostschweiz. Um seinen Eltern zu helfen, hatte er in deren Haus zusammen mit seinem Bruder ein kleines Unternehmen im Keller gegründet, zuerst hatte er mit alten Maschinen Plastik für den Lebensmittelbereich produziert. Dann hat er damit begonnen, die Maschinen sowie die Werkzeuge zu verbessern. So gelang es ihm, keine radikal neue, sondern eine inkrementelle, schrittweise Verbesserung zu erreichen. Auch Zumtobel konnte in den 1950ern noch bessere Lampensysteme entwickeln. Und es gibt noch viele weitere Beispiele, die zeigen, dass Vor­arlbergs mittelständige Unternehmen stark von der Nachbarschaft profitiert haben, aber auch selbstständig ihre Produkte immer weiter verbessert haben. Egon Blum, Initiator der Ausbildung für Jugendliche im technischen Bereich, war auch Grenzpendler in die Schweiz, bevor er Arbeitnehmer bei Julius Blum wurde. Auch Gerhard Bachmann war Grenzgänger, in Liechtenstein. 

Sie sagten 2019, Vorarlbergs Unternehmen würden untereinander stark kooperieren. Hat sich dieser Eindruck bei Ihnen bestätigt?
Ja. Man kooperiert in Vorarlberg sehr stark untereinander. Mich fasziniert das. Ich glaube: Wenn die Bürger ein sehr starkes Bewusstsein für die eigene Region haben, dann kooperieren sie untereinander sehr stark; und gute Kooperation ist ein wichtiger Faktor für gute, wirtschaftliche Entwicklung. Obwohl die meisten Mainstream-Wirtschaftswissenschaftler ausschließlich Wettbewerb für den Schlüssel zur Innovation halten. Wettbewerb ist selbstverständlich auch ein Faktor für Innovation, aber eben nicht der einzige. Weltoffenheit und die Neugier auf etwas Fremdes und Neues sind natürlich auch sehr wichtig für das Schaffen von Innovationen.

Sie sagen also, die Vorarlberger hätten ein starkes Bewusstsein für ihr Land?
Ja, diesen Eindruck habe ich bekommen. Obwohl Vorarlberg ja erst spät ein eigenes Bundesland wurde und lange Zeit abhängig von der Verwaltung in Tirol war. Ob es das Landesbewusstsein da schon gegeben hatte? Ich glaube es, aber ich weiß es nicht, ich muss da noch mehr historische Bücher über Vorarlberg lesen. Heute ist das Autonomiebewusstsein Vorarlbergs jedenfalls sehr stark. Man sieht das am Föderalismus­institut an der Universität Innsbruck, und auch an der Tatsache, dass in Vorarlberg – in der Zweiten Republik – bisher keine kleinen Gemeinden fusioniert wurden, im Gegensatz zum Osten von Österreich.

Sie wissen über unser Land wesentlich mehr als so mancher Einheimische …
Ich glaube nicht. Aber darf ich Sie auch etwas fragen?

Natürlich! Was denn bitte?
Ich habe im Sutterlüty-Schaufenster das Wort ‚bsundrig‘ gelesen. Was bedeutet das?

Besonders. Das ist ein Dialekt-Ausdruck.
Besonders? Das heißt ‚besonders‘? Danke! Ich kann die Dialekte in Vorarl­berg nicht gut verstehen. Aber ich forsche gerne über Vorarlberg. Es ist so ein schönes Land. 

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person
Kenji Yamamoto, * 1952 in der Niigata Präfektur, Japan, war unter anderem an der TU München als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und der Alexander-von-Humboldt-Stiftung tätig. Der Wirtschafts- und Sozialgeograf erforscht seit 2014 unser Bundesland, er war im Zuge einer statistischen Recherche auf Vorarlberg aufmerksam geworden. Yamamoto war Professor an der Hosei-Universität in Tokyo und an der Kyushu Universität in Fukuoka.

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