Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Ein Freiheitsraum, eine Gegenwelt“

September 2023

Philosoph Alexander Grau (55) sagt im Interview, dass in den Sozialgefügen, die der Mensch sich selbst geschaffen hat, enormer Konformitätsdruck herrscht: „Wir denken, glauben, meinen, sagen, was der jeweilige Zeitgeist uns vorgibt.“ Dem gegenüber steht der Wald, den Publizist Grau in seinem aktuellen Essay ein „Refugium der Freiheit“ nennt.

Herr Grau, was sucht der Mensch, der den Wald betritt, insgeheim? 
Für Menschen ist der Wald ein Rückzugsort. Das war er schon immer. Wälder sind eine Möglichkeit, sich der Gesellschaft zu entziehen: aus kriminellen, religiösen oder sozialen Gründen, zur spirituellen Einkehr, was auch immer. Das hat damit zu tun, dass Wälder zunächst herrschaftsfreie Räume sind. Erst im Mittelalter werden nach und nach aus einigen Wäldern Forste, also Räume, die der Verwaltung eines Adligen unterliegen. Robin Hood lebt ja nicht umsonst im Sherwood Forest – er kämpft dafür, dass der Sherwood eben kein ‚Forest‘ wird. Ab Ende des 19. Jahrhunderts wird der Wald jedoch zunächst Erholungsraum für Großstadtmenschen. Man sucht Ruhe, Stille und gute Luft. Allerdings verliert der Wald auch in der Moderne nie sein gesellschaftsutopisches Potential. Denken Sie an die Wandervogelbewegung. Hier ging es nicht einfach um Erholung in frischer Luft, sondern um gesellschaftspolitische Utopien.

Soll heißen?
Man will das Korsett bürgerlicher Regeln aufbrechen, man will naturnah leben, einfach, authentisch, solidarisch. Manche streben eine klassenlose, eher anarchistische Gemeinschaft an. Entsprechend zerbricht der erste Wandervogel an Hierarchiediskussionen.

Sie nennen den Wald den Antagonisten der Zivilisation …
Kultur musste dem Wald erst abgerungen werden. Cultura bezeichnet im Lateinischen einfach eine Ackerfläche, also ein Stück Land, das dem Chaos, dem Wildwuchs der Natur entrissen wurde. Dieser Ordnungsraum ,Kultur‘ mit seinen Äckern, Furchen, Wegen und Dörfern setzt dem Unberechenbaren, dem Bedrohlichen der Natur eine strukturierte, aufgeräumte und übersichtliche Welt entgegen. Kultur bedeutet Sicherheit. Der Wald hingegen ist unübersichtlich, unberechenbar.

Und, um Sie zu zitieren, auch ein „Erfahrungsraum für das Begrenzte und Endliche“…
Weil der Wald unberechenbar, unübersichtlich und veränderlich ist, wird der Mensch in ihm mehr als in jeder anderen Landschaft mit seiner Ohnmacht konfrontiert, mit der Vergeblichkeit seines Bemühens, Ewiges zu schaffen. Während die scheinbare Zeitlosigkeit der Berge und Meere die Belanglosigkeit alles Endlichen suggerieren, konfrontiert uns der Wald auf eine ganz unmittelbare Art mit der Vergänglichkeit der Welt.

Aber im Entstehen und Vergehen liegt doch gleichzeitig auch etwas Ewiges. Aus dem Vergangenen entsteht das Neue, unweigerlich, in einem ewigen Ablauf …
Genau. Im Wald erfährt der Mensch instinktiv, dass es nichts Festes gibt in dieser Welt. Das Einzige, was konstant ist, ist das ewige Entstehen und Vergehen.

Wälder, das schreiben Sie an einer Stelle, seien geronnene Zeit. Geronnene Zeit? Ein schöner Ausdruck.
Im Wald wird Zeit anschaulich. Der Wald ist ein Geschichtsbuch aus Holz. Hier stehen Bäume, die gegebenenfalls Jahrhunderte alt sind, man sieht Wiederaufforstungsmaßnahmen vergangener Generationen. Schichten legen sich über Schichten. Jahreszeiten über Jahreszeiten. Epochen über Epochen. Man sieht Wildwechsel, denen das Wild so seit Jahrhunderten folgt. Im Wald erleben sie eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, das Nebeneinander von Jahrhunderten mit der Gegenwart oder der jüngeren Vergangenheit. 

Historisch gesehen, wann entdeckt der Mensch den Wald als Ort der Inspiration?
Das beginnt Ende des 18. Jahrhunderts. Denken Sie an Goethe. Der geht im Wald so vor sich hin, nichts zu suchen ist sein Sinn. Das war 1813, wurzelt gedanklich aber im Sturm und Drang. 1777 unternimmt Goethe seine berühmte Harzreise. Ende des 18. Jahrhunderts ist der Wald kein Bedrohungsraum mehr, Wölfe sind erlegt, Räuberbanden verschwunden. Man beginnt zu reisen, es werden Landschaften erkundet, der Wald wird zu einem romantisch verklärten Ort. Erst sind das nur romantische Naturerkundungen von Studenten, später erfasst es das städtische Bürgertum.

Was ist das für eine Welt, in der der Wald erstmals romantisiert, verklärt wird?
Es ist vor allem eine zunehmend städtische Welt, eine Welt fernab der Natur, in der die bürgerliche Berufswelt entsteht, die Welt der Kanzleien, Büros und Kontore. Das alles verändert auch die Alltagskultur der Menschen. Der Einzelne wird weggespült vom Sog der Modernisierung, ob er will oder nicht. Das wird häufig als Entwurzelung empfunden. Man fühlt sich aus dem vertrauten Boden gerissen und in eine ganz neue Lebenswelt verpflanzt. Die ist aufregend und beeindruckend, aber auch bedrückend und beängstigend. Demgegenüber wird der Wald zum Fluchtort vor den entfremdenden Verwerfungen der Moderne.

Ihr Essay „Vom Wald“ ist zugleich auch Literaturgeschichte. Wollen wir einen Schriftsteller exemplarisch nennen?
Vielleicht Adalbert Stifter. Zum einen, weil es wichtig ist, wieder und immer wieder an Stifter zu erinnern. Also an den Verfasser so großartiger Romane wie ,Der Nachsommer‘ oder ,Witiko‘. Zum anderen, weil Stifter das Entstehen einer städtischen Lebenswelt Anfang des 19. Jahrhunderts in all ihren Ambivalenzen literarisch verarbeitet und ihr immer wieder den Wald entgegensetzt hat. Stifter stammte aus Oberplan, Böhmen, also aus dem heutigen Dreiländereck von Deutschland, Tschechien und Österreich. Der Böhmerwald spielt in seinem Werk eine enorme Rolle. Vor allem als Ort der Wahrheit und des Schutzes vor den Verwerfungen der Moderne. Hier, im Wald, kann nach Stifter die Seele jene Wunden heilen, die die städtische Moderne ihr geschlagen hat.
Sie zitieren – unter anderen – auch Thoreau. Und dort dessen wunderbaren Satz „nie habe ich einen besseren Gefährten gefunden als die Einsamkeit“. Ist es also auch die Einsamkeit, die der moderne Mensch in den Wäldern sucht?
Natürlich. Wälder erlauben Distanz von der gewohnten Gesellschaft und ihren geistigen und kulturellen Zwängen. Aber genau dieses Schaffen von Distanz ist auch sehr anspruchsvoll. Plötzlich ist man als Einzelner ganz auf sich zurückgeworfen, ohne das bequeme Korsett der Gesellschaft, das einem sagt, was erlaubt ist und was nicht, was eine richtige Meinung ist und was nicht. Plötzlich gibt es keine Regeln, keine Vorschriften. Doch genau diese radikale Konfrontation mit dem einsamen, radikal auf sich allein gestellten Ich scheuen die meisten Menschen. Lieber fliehen sie in das Opium der Ideologien, in den Fusel der Heilslehren und in den alles erstickenden Mief der Gemeinschaft. Das ist bequemer.

Im Wald ist der Mensch zurückgeworfen auf sich selbst?
Der Wald ist ein Freiheitsraum, eine Gegenwelt zu den Sozialgefügen, die der Mensch sich selbst geschaffen hat. In diesen Sozialgefügen herrscht ein enormer Konformitätsdruck. Wir denken, glauben, meinen, sagen, was der jeweilige Zeitgeist uns vorgibt. Unsere angeblich so individuellen Überlegungen und Meinungen sind zumeist nichts anderes als Produkte sozialpsychologischer Anpassung. Dieser totalen Nivellierung und Vereinnahmung entkommt allein der Typus Mensch, den Ernst Jünger nicht ohne Grund als Waldgänger bezeichnet. Dieser Waldgänger hängt keiner Ideologie an, keiner Partei, keiner Organisation. Er ist im tiefsten Sinne unabhängig.

Sind Sie selbst ein Waldgänger in Jüngers Sinn?
Das ist ein hoher Anspruch, dem ich sicher nicht genüge. Aber das Bild des Waldgängers als das eines geistigen Anarchisten ist sicher ein gutes Korrektiv, an dem man sich immer wieder messen und überprüfen sollte.

Sie schreiben: „Der Wald ist die Erinnerung an eine Freiheit, die der Mensch einmal besaß.“
In dem Bemühen, uns eine immer freiheitliche Gesellschaft zu schaffen, uns zu emanzipieren, haben wir uns ein immer rigideres Zwangssystem geschaffen. Auch die Zwangsvorstellung, unbedingt frei sein zu wollen, ist eine Zwangsvorstellung. Oder die Idee, es gäbe nur die eine, richtige Freiheit. Wer so denkt, öffnet der Unfreiheit Tür und Tor. Freiheit gibt es nur im Plural. Frei ist der Mensch nur, wo es Freiheiten gibt. Der Wald ist in diesem Sinne ein Refugium der Freiheit. Er erinnert uns daran, dass Freiheit keine abstrakte philosophische Kategorie ist, sondern ein Produkt einer endlichen, kontingenten und fluiden Welt. Wir sind zur Freiheit verurteilt, hat Jean-Paul Sartre einmal so schön formuliert. Genau daran gemahnt uns der Wald: Dass wir gar nicht anders können, als frei zu sein.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person

Alexander Grau
*1968 in Bonn, lebt und arbeitet in München. Der Philosoph und Publizist arbeitet als freier Journalist unter anderem auch für die „Neue Züricher Zeitung“ und schreibt seit Juni 2013 wöchentlich Kolumnen für „Cicero online“. Von Alexander Grau sind mehrere Bücher erschienen, sein aktuelles trägt den Titel: „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“, Claudius Verlag, München, 2023.

Kommentare

To prevent automated spam submissions leave this field empty.