Andreas Dünser

Chefredakteur "thema vorarlberg" (andreas.duenser@themavorarlberg.at)

„Mittäter solcher Welten“

September 2023

Die Landgespräche Hittisau widmen sich am 30. September dem Thema „Kulturlandschaft“. Doch was ist Landschaft überhaupt? Wie blicken wir auf Landschaft? Roland Gnaiger ist einer der Referenten, der Architekt sagt im Vorab-Interview unter anderem: „Unser Bild der Landschaft ist ideologisch und politisch instrumentalisiert. Ich glaube nicht, dass zwei Menschen im selben Landschaftsausschnitt je dasselbe sehen.“

Herr Professor Gnaiger, die Landgespräche Hittisau widmen sich Ende September dem Thema ‚Kulturlandschaft‘. Wenn wir von einem archaischen Verständnis des Begriffes Kulturlandschaft ausgehen, blickt man dann mit Wehmut auf die Gegenwart? 
Als vor 10.000 Jahren der Wandel ursprünglicher Natur zu Kulturlandschaft begann, war das ein Veredelungsprozess im Sinne menschlicher Bedürfnisse. Im Zuge der Sesshaftwerdung der Menschen entstand aus genauem Beobachten der Natur, durch Züchtung und Veredelung, aus Respekt, Sorgfalt und Intelligenz eine Vielzahl neuer Pflanzen- und Tierarten, Lebens- und Bauformen. Die Folgen waren Artenreichtum, Resilienz und Schönheit. Im Laufe der vergangenen 60 Jahre hat sich die Artenzahl an Gräsern, Blumen und Kräutern in unseren Wiesen um circa zwei Drittel verringert. In vergleichbarem Umfang hat sich der Insekten-, Vogel-, und Schmetterlingsbestand reduziert. Man müsste ein emotionaler Krüppel sein, würde einen das nicht mit Wehmut erfüllen. Wir haben Monokulturen geschaffen, der Selbstversorgungsgrad hat einen historischen Tiefpunkt erreicht, die gedankenlose Flächenversiegelung ein Höchstmaß angenommen. Es ist zur Kenntnis zu nehmen, dass wir es heute nicht mehr mit einer Kulturlandschaft zu tun haben. Die Konsequenz wird dramatisch auf uns zurückfallen.

Was aber ist Landschaft überhaupt?
Wenn wir von Landschaft reden, glauben wir zwar alle zu wissen, was gemeint ist. Sieht man aber genauer hin, lässt sich Landschaft nicht eingrenzen und noch weniger definieren. Etwas so Vielschichtiges, das mit allen Lebensbereichen vernetzt ist, lässt sich auch nicht mit einer einzigen Wissenschaftsdisziplin erklären. Wo beginnt Landschaft? Wo endet sie? Wie tief reicht Landschaft in den Untergrund, wie hoch in die Lüfte? Zählen Wurzelwerk und Quellen zur Landschaft, zählen Wolken und Wind dazu? Eine Grenze zwischen Landschaft und Welt lässt sich nicht finden. 

Zumal auch jeder mit anderen Augen auf Landschaft schaut?
Ja, unser Bild der Landschaft ist ideologisch umkämpft und politisch instrumentalisiert. Ich glaube nicht, dass zwei Menschen im selben Landschaftsausschnitt je dasselbe sehen. Wir alle sind unterschiedlich programmiert. Unsere Profession, unser Bildungshorizont, unsere Vorurteile, Meinungen und Sehgewohnheiten legen sich über die Landschaft und verdecken ihre reale Beschaffenheit. Es gibt in diesem Sinn kein objektives Bild von Landschaft. Jeder sieht etwas anderes.

Und was sehen Sie als Architekt oder Raumplaner, wenn Sie auf die Landschaft Vorarlbergs blicken?
Wenn ich als Architekt auf die heimische Architektur sehe, dann lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass einiges geglückt ist. Schauen Sie nur einmal ins benachbarte Allgäu, dann wissen Sie, was ich meine. Aber in der Raumplanung, im Siedlung- und Städtebau haben wir versagt. Man muss sich vergegenwärtigen, dass Vorarlberg Anfang des 20. Jahrhunderts etwas mehr als 100.000 Bewohner und Bewohnerinnen hatte. In den gut 100 Jahren seither hat sich die Einwohnerzahl vervierfacht. Und auch die durchschnittliche Wohnfläche je Bewohnerin ist um ein Vierfaches gewachsen. Heute liegt sie über 40 Quadratmeter je Person. Dieser 16-fachen Vergrößerung der Wohnfläche steht der Gewerbebau nicht nach. Das musste die Landschaft verkraften. Für dieses Wachstum haben wir kein adäquates Besiedlungskonzept entwickelt. Wir schufen Streusiedlungen wie in den Jahrhunderten davor: Ein Haus in der Mitte des – inzwischen kleinen – Grundstücks. Im Gegensatz zu den einstigen Bauern nehmen wir zudem heute auch keine Rücksicht auf die Fruchtbarkeit der Böden. 

Wir hatten uns bereits im Vorfeld dieses Interviews kurz über das Thema unterhalten, Sie sagten, der beste Weg, eine Landschaft zu erkunden, sei das Gehen.
Unsere Landschaft leidet – auch – unter unserer Lieb- und Achtlosigkeit. Das hat mit unserer ständigen Fokussierung auf Ziele zu tun, mit unserem vollgeräumten Kopf, aber auch mit der Geschwindigkeit, mit der wir durch Landschaften reisen. Lucius Burckhardt, der Begründer der Spaziergangswissenschaft, hat Gehen als jene Form beworben, in der man Landschaft und Umwelt am intensivsten wahrnimmt. 

Und wenn Sie selbst gehen …
Mit der Verlangsamung verfeinert sich meine Wahrnehmung und erfasst alle Sinne. Unterschiedliche Landanbaumethoden und Baukulturen, ein anderer Umgang mit dem Gelände, wechselnde Räume und Atmosphären werden intensiv wahrgenommen und verstanden. Auch Temperaturveränderungen – beispielsweise beim Betreten eines Waldes. Details gewinnen an Gewicht. Bei intakten Landschaften ist der Eindruck beglückend, zerstörte Landschaften lassen mich leiden. Die Bilder solcher ‚Ergehungen‘ werden körperhaft und ausdauernd gespeichert. Für mich ist Gehen Lernen aus erster Hand. 
 
Das heißt, man begreift im Gehen das vielschichtige Phänomen Landschaft, weil alle Sinne angesprochen werden? Positiv wie negativ?
Ja. Ich habe mit meinen Studierenden aus diesem Grund mehrtägige Weitwanderungen unternommen. Wir wählten die Wege nicht nach attraktiven Zwischenzielen aus. Nach nahezu intakten Landstrichen sind wir beispielsweise in Liezen, in der Steiermark, abrupt in ein Gewerbegebiet geraten: über zwei Kilometer Supermärkte, riesenhafte Sportartikel-Häuser, Baumärkte, Tief- und Hochgaragen, Tankstellen. Diese Räume sind nur gepanzert im Auto zu ertragen. Architektinnen müssen wissen, ob sie zu Mittätern solcher Welten werden wollen. 

Haben wir Menschen ein ausreichendes Verständnis für Landschaft?
Ich glaube nicht. Wir nehmen selbst unsere eigene, alltägliche Umgebung und deren Veränderung kaum wahr. Wer Karstgebiete, Steppen, Wüsten und urbane Brachen gesehen und durchwandert hat, ist eher in der Lage, dankbar auf die eigene Umwelt zu sehen, sie sorgfältig zu erhalten und zu pflegen. Gut, dass sich die Landgespräche Hittisau diesem Thema widmen!

Vielen Dank für das Gespräch!

Land_Gespräche Hittisau 

Dem Thema „Kulturlandschaft“ widmen sich am 30. September, ab 13 Uhr im Ritter-von-Bergmann-Saal in Hittisau u.a. Architekt Roland Gnaiger, Landschaftsplanerin Maria Anna Schneider- Moosbrugger und Agrarforscherin Beatrice Schüpbach. Die Teilnahme ist kostenlos, Anmeldung ist nötig: 05513-6209-250, tourismus@hittisau.at

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