Adi Fischer

langjähriger ORF-Chefredakteur, heute Pensionist und freier Journalist

Fehlen uns Leitplanken?

Mai 2015

Was wir erleben, müssen wir irgendwo einordnen. Wir klopfen es ab auf gut oder böse, nützlich oder schädlich, schön oder hässlich. Ständig sind wir am Vergleichen und Urteilen. Dabei könnte – so sagt man uns – ein urteilsfreies, achtsames Leben im Jetzt die Angst vor einer chaotischen, letztlich unbegreifbaren Welt nehmen.

Nebenbei wäre es auch praktisch, auf das Urteilen zu verzichten. Voraussetzung dafür ist nämlich ein taugliches Raster. Vor nicht allzu langer Zeit wussten die meisten Menschen noch, an wen sie sich zu halten hatten: Pfarrer, Bürgermeister und Schuldirektor für die kleine Welt – Papst, Präsident der Vereinigten Staaten und Hugo Portisch für die große.

Und heute? Der Papst watscht seine engsten Mitarbeiter öffentlich ab und verkündet so den moralischen Quasi-Bankrott seiner Führungsriege. Die USA haben ihren politischen Leitanspruch wenn nicht schon mit Vietnam, dann spätestens mit Guantanamo und den Spionageskandalen verloren. Und im Fernsehen können selbst drei parallel geschaltete Experten das heillose Desaster an den unzähligen Kriegs- und Terrorschauplätzen dieser Erde nicht mehr schlüssig erklären.

Halt, da war noch die kleine Welt. Den Pfarrer kennen die meisten nur noch vom Hörensagen, die Bürger- und Schulmeister sind längst mit ihren eigenen Problemen hinreichend ausgelastet.
Ist aber alles nicht so schlimm: Als Blogger, Facebooker, Twitterer und Instagramer erklären wir uns die Welt ohnehin gegenseitig – wert- und hierarchiefrei. Bleibt die Frage, ob es sich mit unhinterfragten Autoritäten besser gelebt hat als in der schrankenlosen Informationsflut des Internet-Zeitalters. Aber wir sollen ja nicht vergleichen und urteilen …