Frederic Fredersdorf

FH Vorarlberg, Leiter Sozial- und Wirtschaftswissenschaften

Wirklichkeit und Wahrheit

Juli 2015

Was ist real? Was ist wahr? Kennt nicht jeder jemanden, der meint, die absolute Wahrheit gepachtet zu haben? Seit Paul Watzlawik die „Anleitung zum Unglücklichsein“ verfasst hat, wissen wir, dass sich Menschen ihre eigene Wirklichkeit gestalten. Aus dieser heraus wird die Welt beurteilt. Und es wird danach gehandelt, unabhängig davon, ob die Kon­struktion der Wirklichkeit zutrifft. Unabhängig davon, ob sie einen selbst, andere Menschen oder die Umwelt schädigt. Negativbeispiele gibt es zuhauf: Prominente, deren Wirklichkeiten dazu führen, dass sie meinen, sich ungestraft über demokratische Gesetze stellen zu dürfen. Weniger prominente Menschen, die kollektiv und unkritisch einer zerstörenden Ideologie folgen – etwa Anhänger einer Sekte oder einer ausländerfeindlichen Weltsicht. Oder wenn wir meinen, der Klimawandel sei nicht so gravierend, denn es gebe genügend Gutachten, die diese Entwicklung infrage stellen. Wie es zu unkritischen und gemeinschaftsschädigenden Haltungen kommt, haben die Sozialwissenschaften ausreichend erforscht. Beim Individuum spielen Emotionen und Werthaltungen eine bedeutende Rolle: irrationale Ängste, Habgier, Sehnsüchte, Hass und viele andere mehr. Innerhalb von Gemeinschaften verstärken ein geteilter Wertekanon, Gruppendruck, eine gemeinsame Geschichte wie auch geistige und soziale Geborgenheit die Entwicklung einer kollektiven Realität. Wie wir uns vor der Kon­struktion negativer Wirklichkeiten schützen können, dafür gibt es kein allgemein gültiges Rezept, weil jede und jeder einen blinden Fleck hat. Einige Zutaten sind meines Erachtens eine gesunde Skepsis, eine offene Grundhaltung, Menschen­liebe, der gelebte Kant’sche Imperativ („Was du nicht willst, dass man dir tu’ …“) und nicht zuletzt das Beurteilen von Sach­lagen anhand einer breiten Datenbasis – natur- wie humanwissenschaftlich – statt anhand von Vorurteilen.