Die Italienisierung Vorarlbergs
Vorarlberg folgt zeitverzögert internationalen politischen Trends: Die Zeit der absoluten Mehrheiten ist vorbei, Wähler und Parteien entfremden sich, die politische Landschaft zersplittert. „Noch an eine treue ÖVP-Wählerschaft zu glauben, ist eine Fiktion“, sagt Politikwissenschaftler Günther Pallaver im Gespräch mit „Thema Vorarlberg“.
Die absolute Mehrheit der ÖVP auf Landesebene ist Geschichte, die absoluten Mehrheiten der Schwarzen in den Städten sind ebenso dahin. Natürlich gibt es Ausnahmen, Lustenau beispielsweise. Aber das sind eben nur Ausnahmen in einem Trend, der der ÖVP zuletzt stets Verluste beschert hat – im Landtag und in den Städten, aber auch bei der Nationalrats- und der Europawahl. „Die Daten belegen, dass die ÖVP in Vorarlberg auf dem Weg zu einer Mittelpartei ist“, sagt der Politikwissenschaftler Günther Pallaver, „die Zeiten absoluter Mehrheiten sind vorbei.“ Herbert Sausgruber habe kraft seines breiten Standings in der Bevölkerung den Trend 2009 noch aufhalten können, vorerst. Doch bei der Landtagswahl 2014 fand laut Pallaver dann zeitverzögert statt, was in anderen Bundesländern bereits Jahre zuvor erfolgt war – in Tirol hatte die ÖVP ihre Absolute schon 2008 verloren, auch in Salzburg und in der Steiermark, also in weiteren Ländern mit einer einst starken schwarzen Historie, hatte die ÖVP im Laufe der Jahre sukzessive Macht und Mandate eingebüßt.
„Das ist eine Fiktion“
Angesichts dieser Entwicklung nennt es Pallaver „eine Fiktion, noch an eine treue ÖVP-Wählerschaft zu glauben“. In Wahrheit finde ein Erosionsprozess der Wählerbindung an die Volkspartei statt. „Die Bindekraft einstmals großer Parteien hat abgenommen und wird weiter abnehmen“, konstatiert der Wissenschaftler. Von diesem Trend sind, österreichweit gesehen, Volkspartei und Sozialdemokratie gleichermaßen betroffen: SPÖ und ÖVP hatten auf dem einstigen Höhepunkt ihrer Macht über 90 Prozent der Parlamentsmandate auf sich vereint. Heute liegen Schwarze, Rote und Blaue in Umfragen mit rund 25 Prozent gleichauf. Eine dominierende Großpartei gibt es in Österreich nicht mehr. Die politische Landschaft ist in drei gleich große Mittelparteien geteilt. Und allein die Vorstellung, eine dieser drei Mittelparteien könnte künftig eine absolute Mehrheit erreichen, ist absurd.
Umkehr? Unwahrscheinlich
Kann die Vorarlberger ÖVP unter diesen Vorzeichen die absolute Mehrheit zurückerobern? Pallaver ist skeptisch, sagt, dass „die Fortsetzung des derzeitigen Trends wesentlich wahrscheinlicher ist als dessen Umkehr“. Herbert Sausgruber hatte den Verlust der Absoluten 1999 bei der nachfolgenden Landtagswahl korrigieren können. Kann dies auch Markus Wallner gelingen? Wieder ist der Professor skeptisch: „Die politischen Gegebenheiten sind andere geworden.“ Klar – die ÖVP ist mit ihren aktuellen 42 Prozent nach wie vor die stärkste Kraft in Vorarlberg, uneingeschränkt, mit großem Abstand. Aber die 42 Prozent skizzieren trotzdem den Weg: Innerhalb von zehn Jahren haben Vorarlbergs Schwarze 13 Prozentpunkte Zustimmung verloren. Und wie in Restösterreich zersplittert laut dem Politologen auch in Vorarlberg die Parteienlandschaft. Mit den Neos ist erstmals eine fünfte Fraktion in den Landtag eingezogen. Für Pallaver ist es nicht undenkbar, dass künftig weitere Parteien den Einzug in das Landesparlament schaffen werden. Wenn man so wolle, schmunzelt der Südtiroler mit Vorarlberger Mutter, könne man durchaus von einer beginnenden „Italienisierung“ Vorarlbergs sprechen – in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren waren in Italien eine Vielzahl kleiner Parteien ins Parlament gelangt.
Eine wachsende Distanz
Warum aber nimmt die Bindekraft von Großparteien ab? Warum verliert die ÖVP stetig an Zuspruch? „Mehrere Gründe sind für die wachsende Distanz zwischen Partei und Wähler verantwortlich“, erklärt Pallaver und nennt etwa den Laisierungsprozess der Gesellschaft. „Früher gingen die Vorarlberger am Wahlsonntag erst in die Kirche und dann ins Wahllokal, um die Volkspartei zu wählen.“ Die Realität ist heute eine andere. Doch nicht nur der gesellschaftliche Wandel, auch die starke Entideologisierung aller Parteien koste Stimmen. „Die Parteien“, sagt Pallaver, „haben ideologisch stark abgerüstet – gemäß dem Motto, wonach man Wahlen in der Mitte gewinnt, sind die Ansagen aller Parteien möglichst breit geworden, um nur ja viele anzusprechen.“ Das aber kostet Kontur, kostet Identität: Die Parteien sind für den Wähler heute kaum noch unterscheidbar. Sie sind Allerweltsparteien geworden. Wer klare gesellschaftspolitische Aussagen sucht, sucht vergebens – die starke ideologische Abrüstung nimmt den Parteien ihre Merkmale, aufgrund derer sie früher gewählt worden waren.
Der rationale Wähler
Mit den Parteien hat sich auch die Wählerschaft gewandelt: „Der Wähler ist heute individueller und rationaler. Er entscheidet nicht mehr nach ideologischen Gesichtspunkten, er wählt, wovon er sich selbst am meisten verspricht.“ Auch deshalb gibt es immer mehr Wechselwähler, und der Trend, sich erst in der Wahlzelle für eine Partei zu entscheiden, wird ständig stärker, bei einer insgesamt sinkenden Wahlbeteiligung. All das erschwert die Mobilisierung der Wählerschaft immer mehr. Pallaver sagt auch, dass die Parteien die direkte Verbindung mit den Wählern und die Pflege der eigenen Mitglieder vernachlässigt haben, in Verkennung der Situation: „Denn der potenzielle Wähler will kein Direct-Mailing, er will den persönlichen Kontakt.“ Um selbigen herzustellen, brauche aber jede Partei motivierte Mitarbeiter, die sich mit den Inhalten der eigenen Fraktion stark identifizieren. Pallavers Ratschlag an alle Parteien? „Die Basis hegen und pflegen, mehr Partizipation der eigenen Mitarbeiter zulassen, die Bürger direkt kontaktieren und in der öffentlichen Debatte kantigere Positionen einnehmen.“ Man kann all das auch salopper formulieren: Zurück zu den Wurzeln. Oder ab nach Italien.
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