Beat Grabherr

Zentralmatura: Anmerkungen vor der großen Feier

Juni 2015

Tatort: ZIB2-Studio, Mittwoch, 22. April, so gegen 22:15 Uhr. Die Bildungsministerin eines kleinen mittel­europäischen Landes richtet ihren Tausenden Maturanten des Jahres 2015 eine freudige Botschaft aus: „Die Zentralmatura bedeutet weniger Stress für Schülerinnen und Schüler.“

Im ersten Moment dachte ich, wir direkt Beteiligten an der Bildungsfront hätten diese Erleichterung mal wieder nicht mitbekommen und ich hätte die Zustände in den achten Klassen einfach falsch interpretiert. Als Lehrer, der in vier Maturaklassen unterrichtet, kam ich aber tags darauf nicht umhin, die Schüler mit diesen magischen Sekunden des Interviews bei Armin Wolf zu konfrontieren.

Im Nachhinein würde ich mir wünschen, ich hätte die Reaktionen der Maturanten auf diesen einen Satz für die Verantwortlichen im Bildungs­ministerium gefilmt. Diese waren äußerst imposant. Da war wirklich vieles mit dabei – von ungläubigem Staunen, fassungslosem Entsetzen über Wutausbrüche bis hin zu Tränen. Nicht etwa Tränen der Rührung, sondern des Zorns. Eines sehr ehrlichen, geerdeten Zorns.

Es ist im Endeffekt nicht die Zentralmatura das Problem, es ist der Weg dorthin, der völlig überladen ist. Ich hätte mir das selbst vor diesem Jahr auch nicht vorstellen können, dass man durch reine Überfrachtung schlussendlich so viel blockieren kann.

Die Abschlussklasse ist ein ganz normales Schuljahr, in dem die Schüler etwa 35 Stunden pro Woche in der Schule verbringen und zahlreiche Stunden mit Hausaufgaben und Lernen beschäftigt sind. Natürlich gibt es einige, die das locker packen, aber für viele steckt hier sehr viel Aufwand dahinter. Dann kam die vorwissenschaftliche Arbeit dazu – eigentlich eine nützliche Zusatzqualifikation, aber so, wie das zeitlich und vom Umfang her heuer eingeplant war, war das ein massiver Störfaktor.

Bevor die Premiere der Zentralmatura von den politisch Verantwortlichen dieses Landes daher allzu ausgiebig gefeiert wird, bedarf es aus meiner Sicht doch noch einiger Anmerkungen.

Man mag sich als Außenstehender fragen, warum die Zentralmatura in anderen Ländern reibungslos funktioniert und bei uns nicht. Ich bin nicht grundsätzlich Gegner einer Zentralmatura, da ist vieles vom Grundgedanken her schwer in Ordnung. Aber man muss auch die Schulgeschichte hierzulande im Blick haben. Wir sind das Land der tausenden Schulversuche, in dem sich in den letzten Jahrzehnten Schulen mit unterschiedlichsten Schwerpunkten gebildet haben – seien das musische, sportliche, kreative oder auch naturwissenschaftliche. Das ist vergleichbar mit einer mehrspurigen Autobahn, auf der viele – mit gutem Grund – in unterschiedlichen Geschwindigkeiten unterwegs sind. Es sollte nicht das Ziel sein, dass sich da alle auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner treffen – sozusagen auf dem Pannenstreifen. Dann beklagen sich viele über das schmale Niveau – nun ja, der Pannenstreifen ist eben nicht die Überholspur.

Wie die Ministerin in ihrem Interview erwähnte, hat die erste Säule – die vorwissenschaftliche Arbeit (VWA) – offenbar wunderbar geklappt. Ja, es stimmt, da waren wirklich einige beeindruckende Arbeiten dabei. Allerdings weniger, weil das Produkt so gut vorbereitet war, sondern eher, weil Schüler, Lehrer und auch Eltern enormen Aufwand betrieben haben, das „Kind“ irgendwie zu schaukeln.

Was in den glitzernden Ergebnissen zu sehr verblasst, ist der Zorn, der Frust, die Wut, die Tränen und die Verzweiflung über diese völlig unausgereifte, künstlich aufgeblasene Hürde.

Die Pannen bei der Zentralmatura sind nicht die überlasteten Server oder die peinlichen Texte, die mitunter ausgewählt wurden. Die wirklichen Pannen sind der Qualitätsverlust im Unterricht und die Spuren auf den Seelen der jungen Menschen, die dieses – ohne Not – überladene Jahr einfach nicht oder nur mit extremen Anstrengungen mehr schlecht als recht bewältigt haben. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals so viele Maturanten hatten, die sich in ihrer Verzweiflung in ärztliche Behandlung begeben mussten. Ich kann mich nicht erinnern, dass sich irgendwann so viele Eltern ratlos und kopfschüttelnd gefragt haben, was man mit ihren Kindern in diesem Schulsystem eigentlich macht.

Die Folgen dieses überladenen Jahres sind leider bis in jede einzelne Unterrichtsstunde zu spüren. Die Schüler sind durch die VWA – völlig ohne Not – mit einem Produkt überlastet, das wie ein Damoklesschwert über dem ganzen Jahr schwebt. Schlussendlich führt das zu unzähligen Fehlstunden, weil sie das Produkt sonst einfach nicht bewältigen können. Der Schlüsselmoment war für mich eine der zahlreichen Geisterstunden in diesem Jahr, in denen man eine Klasse unterrichtet, die keine Reaktionen mehr zeigt. Irgendwann habe ich die Frage gestellt, ob die Schüler vielleicht ihr Ausgeh- und Partyverhalten etwas hinterfragen könnten, und bekam von einer angesprochenen Schülerin die Antwort, sie gehe seit Wochen jeden Abend etwa um 21 Uhr zu Bett. Dieser Aussage schlossen sich mehrere Schüler an. Viele waren einfach platt. So geht man mit jungen Menschen nicht um!

Die Gesetze eines Staates sollten seine Bürger schützen. Meines Erachtens sind wir mittlerweile in der Schule in der skurrilen Situation, dass wir unsere Schüler vor den Gesetzen, Erlässen und Reformen dieses Staates schützen müssen. Die Zentralmatura – oder besser gesagt der Weg dorthin – hat dringenden Verbesserungsbedarf. Wir müssen uns gemeinsam hinstellen und uns und vor allem den Schülern sowie deren Eltern eingestehen, dass es in Summe zwar nicht zu anspruchsvoll, aber schlicht und einfach zu viel war.

Jene Dinge, die gepasst haben, darf ja man ruhig feiern, und die soll man auch so belassen. Aber für den Rest wäre eine aufrichtige, öffentliche Entschuldigung bei unseren heurigen Maturanten für das verkorkste Jahr sehr angebracht. Wenn’s geht, vor der großen Feier.

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