Helmut Kramer †

(*1939 in Bregenz, † 2023 in Wien)  war von 1981 bis 2005 Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung, ab 1990 Honorar­professor an der Universität Wien, 2005 bis 2007 Rektor der Donau-­Universität Krems.
Foto: Robert Newald

 

Die griechische Tragödie

März 2017

Die Griechenland-Krise hebt wieder ihr hässliches Schlangenhaupt aus der Ägäis, in das sie vorübergehend untergetaucht war. Das Geschehen ist nicht nur unheimlich, sondern auch gefährlich: für die schon schwer getroffene griechische Bevölkerung – oder jedenfalls für die Teile von ihr, die nicht mit ihrem Vermögen flüchten konnten –, für den Euro und für den Bestand des gemeinsamen Europas selbst. Dort stehen heuer die Wahlen in den Niederlanden, in Frankreich, in Italien und schließlich auch in Deutschland – wenn dann noch etwas zu retten ist – an. Und dazu kommen noch die ersten offiziellen Verhandlungen mit Großbritannien über den Brexit, bei denen zu erwarten ist, dass mit harten Bandagen gekämpft wird.

Die Erfindung der griechischen Tragödie war eine der großen kulturellen Leistungen der Hellenen vor zweieinhalb Jahrtausenden. Ihre Faszination rührt von der Dramaturgie, dass sie unabwendbar zur Katastrophe führt, überwiegend infolge schicksalhafter Interventionen einiger göttlicher Bewohner des Berges Olymp. Das hat offenbar bis auf die Entwicklungen der letzten zehn Jahre weitergewirkt.
Zwischen einem jungen Griechen, der um ein Arbeitsvisum für Australien ansuchte, und einem Konsularbeamten spielte sich kürzlich folgender Dialog ab: Auf die Frage, warum er nach Australien möchte, antwortet der Grieche: „Aus zwei Gründen: Erstens, weil ich demnächst den Grexit befürchte. Griechenland wird die EU verlassen müssen und das wird unsere Lage weiter verschlimmern.“ Der Australier wendet ein: „So ein Unsinn. Die EU kann es sich nicht leisten, dass es so weit kommt. Griechenland wird bleiben und die Währungsunion auch.“ Darauf der Grieche: „Und das ist der zweite Grund, warum ich fort möchte.“

Die griechische Tragödie der Jetztzeit ist kein Theaterstück, aber sie ist ernst und schicksalhaft, nicht nur für die Griechen selbst, nein, für alle Europäer, jedenfalls auch für uns, die wir der Währungsunion angehören. Die Requisiten der Tragödie sind eine Kaste unfähiger, liederlicher und/oder korrupter Politiker in Griechenland. Dass das Land bankrottgeht, geschieht in der Moderne ja nicht zum ersten Mal. Dazu mentale historische Traumata aus der Zeit der Besetzung durch Hitlers Armee, stark divergierende Lebensauffassungen der Völker am Rhein und jenes am Fuße des Olymps, und schließlich, nicht zuletzt, die Verwirrung, die Experten der Ökonomie – einer Branche, der auch der Autor angehört – verursachen.

Ich deklariere mich vorweg als befangen. Wenn ich nicht gerade herrliche Tage im Bregenzerwald verbringe, liebe ich es, an einem kleinen griechischen Fischerhafen zu sitzen, griechischen Kaffee zu trinken und dem Fischer zuzuschauen, wie er seine Netze flickt, während eine Katze herumschleicht, um sich fressbare Überreste des Fischfangs zu sichern. Ist der Fischer ein fauler Mensch? Soll er werken, wie in einer württembergischen Maschinenfabrik? Oder zackig auftreten wie beim preußischen Stechschritt? Das ließe ich mir vielleicht in Berlin, Unter den Linden, gefallen; aber nicht am Hafen von Ouranopolis oder von Kardamyli. Ich würde nicht mehr hinfahren.

Das Elend der Politiker und ihrer Ökonomen: Ein Teil vermag nur die „Schuld“ der Schuldner zu erkennen, wozu übrigens die deutsche Sprache verführt. Aber jede Schuld hat zwei Seiten: auch die des Kreditgebers, der ein Risiko eingeht und sich ein Geschäft erhofft. Auf der einen Seite stehen eine maßlos aufgeblähte Armee und deren Admirale mit Einfluss auf die Regierung, auf der anderen Seite die Produzenten deutscher, französischer und amerikanischen Rüstungsgüter und mit ihnen die Finanzinstitute, die am Kredit verdienen; übrigens einige an der Wall Street, sehr namhafte, die dazu gleich auch noch ihren Rat als Konsulenten an die griechische Regierung verkauften, wie man die wachsende Verschuldung an der Prüfung durch die europäische Statistikbehörde vorbeischmuggelt.

Wenn dann, weil gar nicht anders möglich, ein annähernd ausreichendes Sparpaket verhandelt werden muss, passieren zwei fundamentale Fehler: Erstens wird übersehen, dass zwar eine schmale Schicht der Bevölkerung, die nicht zuletzt durch Umgehen der Steuerpflicht Reichtum anhäufen konnte, blitzartig das Vermögen außer Landes brachte und in Luxus-Immobilien in London-Knightsbridge anlegte. Und da das die große Mehrheit nicht kann, werden eben deren Löhne und Pensionen enorm (bisher um ein Drittel) gekürzt und die Umsatzsteuer für den täglichen Bedarf hinausgesetzt. Dort macht sich mittlerweile Verzweiflung breit. Gewiss, die staatlichen Zuschüsse zum Pensionssystem sind in Griechenland – in Relation zum allerdings niedrigen Niveau des Sozialprodukts – am höchsten in Europa. Das heißt damit nicht, dass sie absolut hoch sind (übrigens: in Österreich am zweithöchsten).

Zweiter, ebenso unverzeihlicher Fehler: dass – um irgendeinen Konsens zustande zu bringen und gewissen Ideologien zu entsprechen – übersehen wird, dass eine Volkswirtschaft, die heftig sparen muss, an Wirtschaftsdynamik verliert, kaum mehr investiert, und dass auch der Erlös aus dem Verkauf von Staatsvermögen, von Häfen, Eisenbahnen und Flugplätzen, der einen Teil der Schulden abdecken soll, gleichzeitig sinkt. Und dass, besonders fatal, die besten Kräfte (siehe oben) das Land verlassen, um anderswo eine bessere Zukunft zu suchen. Wenn dann die nächsten Tilgungstranchen nicht zustande gebracht werden, braucht das Land wieder frische Kredite. Die sind dann aber nicht mehr durch unseriöse Wirtschaftspolitik und strukturelle Mängel verursacht, sondern durch immer weitere buchhalterische Umschichtungen, die sich zu einer auf keinen Fall tragbaren Schuldenlast und entsprechenden Zinsen kumulieren.

Und da ist dann noch der mögliche Ansteckungseffekt einer akuten Finanzkrise auf andere, nicht wirklich stabile Volkswirtschaften. Der ist nicht verlässlich zu errechnen, aber er ist kein Fantasiegespenst. Damit ginge die Katastrophe über griechische Größenverhältnisse hinaus.

Der deutsche, der französische und ein wenig auch der österreichische Steuerzahler wehren sich natürlich, dass immer höhere Ansprüche gegen den griechischen Staat in den Rauchfang zu schreiben wären. Die deutsche und die französische Regierung wollen in diesem Jahr wiedergewählt werden. Die können sich nicht leisten, die Steuerzahler zu ärgern. Wir in Österreich können das gut nachempfinden. Wir werden ja in dem Ausmaß, das Politiker in Klagenfurt und in Wien angerichtet haben, auf sinnvollere staatliche Vorhaben, etwa zugunsten der Schulen, verzichten müssen.
Zündet die griechische Tragödie eine europäische Explosion? Viel bessere Aussichten, als neuerlich auf das Weiterschieben der Problemlösung in die Zukunft und auf Zeitgewinn zu hoffen, sind nicht zu erkennen. Aber der Gewinn an Zeit durch Weiterwursteln hat in den letzten Jahren die Situation nicht wirklich verbessert.

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