Thomas Feurstein

* 1964 in Bregenz, Studium der Germanistik und Geografie, Biblio­thekar und Leiter der Abteilung Vorarlbergensien an der Vorarlberger Landes­bibliothek seit 1998.

 

„Jörg Böhler, der kühle Draufgänger“

November 2023

Im Fach der Unfallchirurgie ist Böhler ein klingender Name von internationaler Bedeutung. In Wolfurt geboren und aus einfachen Verhältnissen stammend, war Lorenz Böhler zum Begründer der modernen Unfallchirurgie geworden und hatte diesem Fach weit über Österreich hinaus über viele Jahre hinweg seinen Stempel aufgedrückt. Sein Standardwerk „Technik der Knochenbruchbehandlung“ wurde in viele Sprachen übersetzt und prägte ganze Generationen von Ärzten. Aus diesem Grund widmete ihm die Vorarlberger Landesbibliothek 2010 eine Ausstellung mit einem ausführlichen Begleitband. Nicht minder interessant ist sein Sohn Jörg Böhler (1917-2005), der immer wieder mit seinem Vater in Vorarlberg anzutreffen war. Zur Unterscheidung von seinem Vater wurde Jörg bis ins hohe Alter auch der „junge Böhler“ genannt.
1940 widmete die Wiener „Kronen- Zeitung“ ihm und zwei weiteren jungen Männern einen fast zwei Seiten langen Artikel, in dem von deren ungewöhnlicher Reise in die Karibik berichtet wird: „Man wird die Namen der Studenten Hass, Böhler und Wurzian im Gedächtnis behalten – schon deshalb, weil sie sicher dafür bestimmt sind, nochmals Dinge zu vollbringen, die die Welt in Erstaunen versetzen.“ Und die „Kronen-Zeitung“ sollte recht behalten: Besonders Hans Hass machte Karriere als Naturfilmer und Naturschützer, schrieb zahlreiche Bücher und produzierte über 65 Jahre hinweg, meist mit seiner Frau Lotte, erfolgreich Filme für Fernsehen und Kino. Jörg Böhler, damals noch junger Medizinstudent, trat später in die Fußstapfen seines Vaters und leitete zuletzt als Primarius das Lorenz-Böhler-Spital in Wien. Alfred Wurzian, der dritte im Bunde, wurde Ausbildungsleiter der Deutschen Kampfschwimmer im Zweiten Weltkrieg.
Die drei Studenten brachen 1939 von Dover aus zur Fahrt über den Atlantik auf, um sich auf den holländischen Karibikinseln Curaçao und Bonaire der Jagd und der Unterwasserfotografie zu widmen. 
Obwohl sich Hans Hass später als Bewahrer der Unterwasserwelt etablierte, war 1939 die Jagd noch ein wichtiger Bestandteil der Unternehmung. In manchen Passagen seines Buches „Unter Korallen und Haien – Abenteuer in der Karibischen See“ ist sogar förmlich eine heute befremdlich wirkende Lust am Töten spürbar: „Es ist ein unglaubliches Bild, das ich durch meinen Sucher betrachte: das Raubtier und die leuchtend braune Gestalt Jörgs, der, den Fisch mit den Augen abtastend, jeder Muskel gespannt, vorsichtig zum Angriff heranschwimmt. Jetzt endlich ist er auf der richtigen Höhe, jetzt sticht er zu, blitzschnell und mit aller Gewalt.“ Die Studenten um Hans Hass waren aber auch die ersten, die oft nur mit Kamera bewaffnet in tropische Korallenriffe vordrangen, um von dort aufsehenerregende Fotografien und Filme mitzubringen. Gegen Ende ihres Aufenthalts wurden sie vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs überrascht, was eine reguläre Rückreise über den Atlantik verunmöglichte. So entschlossen sie sich, nach New York überzusetzen, wo sie sich ein Auto kauften und eine Vortragsreise quer durch die Vereinigten Staaten begannen. In Hollywood erhielten sie verlockende Angebote, aber es zog sie heimwärts. Auf einem japanischen Dampfer gelangten die drei Weltreisenden nach Japan und von dort unternahmen sie einen Abstecher nach Peking. Die Reise, die über ein Jahr gedauert hatte, endete schließlich in einer langen Fahrt mit der transsibirischen Eisenbahn Richtung Österreich. Das Ergebnis der Reise war der in den Kinos gezeigte Film „Pirsch unter Wasser“.
Zurückgekehrt nach Wien widmete sich Jörg Böhler wieder seinem Medizinstudium. Als er dann wenig später zur Luftwaffe eingezogen wurde, sollte er zu seinem Einsatzort in Russland geflogen werden. Das Flugzeug stürzte jedoch ab, Böhler war einer der fünf Überlebenden, zog sich dabei aber vierzehn Knochenbrüche zu, die er nur dank seiner hervorragenden körperlichen Konstitution überlebte. Als Ironie des Schicksals endete auch der Rückflug in die Heimat mit einer neuerlichen Bruchlandung, die er abermals überlebte. 
Nach der Rückkehr aus Russland begann er seine unfallchirurgische Ausbildung bei seinem Vater Lorenz Böhler am Unfallkrankenhaus Wien. 1947 schrieb er während seiner Hochzeitsreise in einem Brief an Sterling Bunell, den amerikanischen Pionier der Handchirurgie, dass er einen Teil des Honeymoons dem Studium dessen Buches geopfert habe. Das intensive Interesse für die Handchirurgie war nun geweckt und sollte ein Leben lang nicht mehr erlöschen. Unzählige Veröffentlichungen und Vorträge zeugen von seiner internationalen Bedeutung in diesem Fach. 1951 wurde er Primarius am Unfallkrankenhaus Linz und 1964 zum außerordentlichen Professor ernannt. 1970 übersiedelte er an das Wiener Lorenz-Böhler-Spital, das er bis zu seiner Pensionierung Ende 1983 leitete. 
Sein größter Verdienst liegt zweifellos in der Ausbildung des handchirurgischen Nachwuchses. Seit 1958 hielt Jörg Böhler handchirurgische Fortbildungskurse, die legendären „Wiener Handkurse“, die nicht nur im deutschsprachigen Europa bekannt waren. Noch zu seinem 80. Geburtstag nahmen 80 Teilnehmer am 80. Handkurs Böhlers teil. Etwa 5000 lernwillige Chirurgen haben im Laufe seiner Lehrtätigkeit die Kurse besucht.
Jörg Böhler war als Primarius ein nicht unumstrittener Mann. Sogar in einem wohlwollenden Nachruf wird erwähnt, dass er kein einfacher Chef gewesen sei. Er beharrte wie sein Vater auf streng hierarchischen Strukturen, und wer die von ihm aufgestellten Regeln missachtete, konnte schnell in Ungnade fallen. Strikte Vorgaben, die einerseits Effizienz und Kontinuität der Behandlungen förderten, ließen anderseits den behandelnden Ärzten wenig Spielraum.
Einer der wenigen, der Böhler standhaft die Stirn bot, war der Unfallchirurg Werner Vogt, mit dem Jörg Böhler eine jahrzehntelange Feindschaft verband.
Dass Vogt ein streitbarer Zeitgenosse war, bewies er schon 1958 als Lehrer in Bregenz-Vorkloster, von wo er nach einem heftigen Konflikt mit dem damaligen Schulinspektor Helbock nach Andelsbuch-Bersbuch strafversetzt wurde, da er sich mit der damals sehr konservativen Pädagogik in Vorarlberg nicht anfreunden konnte. In ganz Österreich bekannt wurde Vogt später durch sein Engagement im Prozess gegen den Euthanasiearzt Heinrich Gross. Im zweiten Bildungsweg zum Unfallchirurgen geworden, arbeitete er unter Jörg Böhler und war zunächst „von seiner Ruhe und Sicherheit, von seinem wohlüberlegten Vorgehen“ beeindruckt. Zum Abgang des von ihm später ungeliebten Primars veröffentlichte er 1984 in der Zeitschrift „Falter“ eine seitenlange „Abschiedsrede“, in der er mit seinem Vorgesetzten gnadenlos abrechnete. Mit dem fiktiven Primar Braun meinte er in erster Linie Böhler, schloss aber auch „alle autoritären Spitalchefs, meist ehemalige NS-Größen, Jagdflieger oder SS-Sturmführer“ mit ein: „Primarius Braun war nicht zufällig, sondern prinzipiell ungerecht. Braun zwang ein Rudel von Ärzten in den übelsten Opportunismus, in die blinde Zustimmung zu all seinen Anordnungen. Und angeordnet wurde von Braun unentwegt. Es gab hunderte schriftliche Anordnungen.“ Vom Publikum der fiktiven Feier verabschiedete sich Vogt mit: „Ich danke Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren für Ihre entsetzte Aufmerksamkeit.“

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