Thomas Schmidinger

Krieg gegen den IS?

Dezember 2015

Die Feststellung europäischer Politiker, wonach wir uns seit den Anschlägen in Paris in einem Krieg mit dem selbsternannten „Islamischen Staat“ (IS) befänden, sorgte bei einem Teil der europäischen Öffentlichkeit für Unmut. Zu sehr befürchteten wohlmeinende Liberale, dass damit die Aushöhlung genau jener demokratischen Grundregeln eingeleitet werden könnte, die wir doch gerade gegen jihadistische Gruppierungen wie den IS verteidigen würden.

Diese Angst ist berechtigt, wenn man die Verhängung eines auf drei Monate anvisierten Ausnahmezustands in Frankreich und die Wiedereinführung von Grenzkontrollen innerhalb des Schengenraums bedenkt. Andererseits ist die Feststellung banal, wenn man den Konflikt nicht aus einer europäischen, sondern aus einer nahöstlichen Perspektive betrachtet. In Syrien oder im Irak befinden sich all jene, die nicht mit dem Jihadismus konform gehen, schon seit mindestens eineinhalb Jahren im Krieg mit dem IS. Aus Sicht der irakischen Schiiten, der Christen, Schabak oder Jesidi herrschte spätestens seit dem Sommer 2014 Krieg mit dem IS. Diese wurden Opfer systematischer Vertreibungen und Massaker durch die Kämpfer des IS. Aber auch Sunniten, die sich den Jihadisten in den Weg stellten, wurden auf brutalste Weise exekutiert. Hilferufe an die internationale Öffentlichkeit blieben weitgehend unerhört. Erst der erbitterte Widerstand kurdischer Kämpfer in Kobanê führte vor einem Jahr zumindest zu einer Luftunterstützung durch die US-Luftwaffe.

Dass Gruppen wie der IS oder die Jabhat al-Nusra, die syrische al-Qaida, überhaupt so groß werden konnten, ist nicht zuletzt dem syrischen Regime selbst zu verdanken, dessen Umgang mit der Opposition erst jene Militarisierung herbeiführte, in der Gruppierungen wie der IS oder die Jabhat al-Nusra groß werden konnten. Ohne die Unterstützung aus manchen sunnitischen Golfstaaten oder durch Teile des neuen „tiefen Staates“ der türkischen AKP-Regierung wären diese Gruppierungen allerdings auch kaum das geworden, was sie heute sind. Schließlich ist es auch die Finanzierung des IS durch Lösegelder, Öl- und Antiquitätenhandel sowie der Zustrom von Kämpfern aus Europa, die im Nahen Osten eine Organisation entstehen ließen, die weit wohlhabender und mächtiger ist als jede bisherige jihadistische Terrorgruppe.

Kurdische Gegner des IS hatten bereits 2014 darauf hingewiesen, dass dieses Problem nicht auf Syrien und den Irak beschränkt bleiben, sondern eines Tages auch Europa erreichen wird. Das mit den eigenen Krisen beschäftigte Europa war bislang jedoch weder politisch fähig, ernsthaft etwas zur Lösung des Krieges in Syrien und im Irak beizutragen, noch waren europäische Regierungen bereit, Bodentruppen für so eine Lösung in die Region zu senden.

Selbst nach den Anschlägen von Paris beschränkt man sich bisher auf Luftschläge, die allerdings jene Form Krieg zu führen sind, die zwar die höchste Zahl an toten Zivilisten verursacht und ein Maximum an Infrastruktur zerstört, gleichzeitig aber nur ein Minimum an Erfolg zeigt, sofern es keine Bodentruppen gibt, die auch Territorium erobern. Bislang ist allerdings kein europäischer Staat willens, Bodentruppen zu senden, und die kurdischen Einheiten werden nicht große arabische Territorien erobern und besetzen können.
Trotzdem haben kurdische Einheiten in den Wochen vor dem Anschlag in Paris dem IS größere Verluste zugefügt. Syrisch-kurdischen Einheiten drangen immer wieder Richtung ar-Raqqa vor, und die irakisch-kurdischen Peshmerga eroberten wenige Tage vor den Anschlägen in Paris mit Unterstützung von Kämpfern der PKK die Stadt Sindschar zurück. Damit unterbrachen sie die Hauptverkehrsroute zwischen den wichtigsten IS-Metropolen ar-Raqqa und Mosul.

Die Anschläge von Paris waren damit Ausdruck der militärischen Schwäche des IS in der Region und nicht dessen Stärke. Gerade zum Zeitpunkt einer drohenden Niederlage in ihrem Kerngebiet greift die Organisation wieder auf Terrorismus in den Metropolen zurück, um in Europa eine Strategie zu versuchen, die vor zehn Jahren im Irak erfolgreich war.
In einem Brief, den der Gründer der Vorgängerorganisation des IS, Abu Musab al-Zarqawi, bereits im Februar 2004 an die Zentrale der al-Qaida geschrieben hatte, begründete er seine damalige Strategie:

„Anschläge, die auf ihre religiöse, politische und militärische Führung abzielen, werden sie [die Schiiten] provozieren, ihren tobenden Hass auf die Sunniten zeigen und die in ihrer Brust lodernde Feindseligkeit offenlegen. Wenn es uns gelingt, sie in einen konfessionellen Krieg hineinzuziehen, wird es für uns möglich sein, die sorglosen Sunniten aus ihrem Schlaf zu wecken!“

Damit hatte Zarqawi erklärt, über einen konfessionellen Bürgerkrieg die „sorglosen Sunniten“, also all jene, die sich bisher nicht dem Kampf angeschlossen hatten, durch die Angst vor den Schiiten hinter der eigenen Organisation zu vereinen. Genau diese Strategie, in Europa durch Herbeiführung konfessioneller Spannungen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen, Einfluss auf muslimische Communitys zu gewinnen, könnte neben den militärischen Misserfolgen in der Region das zweite Motiv für den Terror in Paris darstellen. In Frankreich existiert bereits heute eine starke antimuslimische extreme Rechte, die durchaus auch in Lage wäre, Wahlen zu gewinnen. Gelänge es dem IS mit Anschlägen, weitere antimuslimische Reaktionen hervorzurufen, könnte aus einer isolierten Gruppe jihadistischer Gewalttäter eine Speerspitze der „Verteidiger der Muslime“ werden.

Dagegen hilft nur eine Allianz von Muslimen und Nichtmuslimen zur Verteidigung der Vielfalt, der Demokratie und der offenen Gesellschaft Europas sowie ein kluges politisches und militärisches Vorgehen gegen den IS in der Region. Dabei geht es längst nicht nur um Syrien und den Irak, sondern mittlerweile auch um Libyen und eine Reihe anderer Staaten, die zunehmend in einen regionalen Krieg hineingezogen werden. Es wurde bereits zu lange gewartet. Noch besteht allerdings die Möglichkeit diesen Krieg zu gewinnen.

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