Hans-Joachim Gögl

Warum wir Utopien brauchen

September 2015

Ich nehme unsere Gesellschaft immer wieder als neugierig, offen, innovationsfreudig wahr. Vorarlberg braucht Utopien, weil wir alle, als Bürger, Unternehmer oder Mitarbeiter, als Bewohner dieses Planeten angesichts der drängenden ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen visionäre Zukunftsbilder dringend benötigen – die Utopie als wirksames Instrument für Einfall und Verwandlung.

Bitte das Gleiche – dafür aber schneller, höher, weiter

In seinem Buch „Kollaps“ analysiert der amerikanische Evolutionsforscher Jared Diamond Verhaltensweisen von Gesellschaften in der Geschichte der Menschheit, die mit existenziellen Bedrohungen konfrontiert sind. Wie reagieren sie darauf ? Vor allem intensivieren sie jene Strategien, mit denen sie über Generationen hindurch erfolgreich waren. Das heißt, mehr vom Gleichen – mit noch mehr Einsatz und Risiko.

Genau so scheint auch unsere Gesellschaft zu agieren: Wird das Öl knapp, erfinden wir künstliche Erdbeben namens Fracking oder pumpen es aus tausenden Metern Meerestiefe. Daran erinnern uns manchmal explodierende Plattformen, gefährdetes Grundwasser oder Schiffskatastrophen von Öltankern. Bedrohen uns Tierseuchen, werden für die Massentierhaltung bessere Impfstoffe produziert. Werden Böden knapp, erhöhen wir die Intensität der Landwirtschaft mit Gentechnik und Düngemitteln. Das fällt uns etwa bei Dioxinskandalen schmerzlich auf. Wenn diese Beobachtung tatsächlich stimmt, dann tragen Gesellschaftssysteme den Plan für ihren eigenen Untergang in sich.
Die schlichte Tatsache, dass Fukushima der zweite GAU war, ist ein Hinweis, der für diesen dunklen Befund spricht.

In manchen Fällen macht das Implodieren eines Systems einfach Platz für ein anderes, wie im Verlöschen der ehemaligen DDR. Im Falle einer erheblichen Klimaveränderung würde uns dieser Platz mangels alternativer Kontinente fehlen.

Bregenzer Träumer und Schweizer Verrückte

Das Beschreiben von Utopien, von geglückten Verwandlungen, von mutig-verblüffenden Entwürfen ist der machtvolle Versuch, Realitätssamen zu streuen, alternative Wirklichkeiten auf dem Feld unseres Bewusstseins anzupflanzen.

Wir sind verantwortlich für unsere Aufmerksamkeit. Die Energie folgt der Wahrnehmung. Wir können immer wieder mit entscheiden, ob wir uns vom Problem, der Kritik, der Angst schieben oder ob wir uns vom Sog des Potenzials, der Ressource, von der Vision anziehen lassen wollen.

Der Fall der Mauer, der plötzliche deutsche Atomausstieg, die Umwälzungen in Nordafrika zeigen, wie unglaublich relativ Gesellschaftsmodelle, Regeln, Verfassungen sind – und für wie unverrückbar wir sie irrtümlich halten. Daran erinnern uns als Vorarlberger jene „Ver-rückten“, die im 19. Jahrhundert die Idee einer gigantischen Rheinregulierung hatten – die Utopie eines Staatsvertrags zwischen der demokratischen Eidgenossenschaft und der Monarchie, noch dazu für ein malariageplagtes, bitterarmes Sumpfgebiet an der äußersten Peripherie des Kaiserreichs. Oder auch die Handvoll Träumer, die auf zwei Kiesschiffen im Jahr eins nach dem Zweiten Weltkrieg die Bregenzer Festspiele gestartet haben.

Du verwandelst dich in das, was du betrachtest

Solange wir nur das bestehende Modell betrachten, kann uns auch nur das bestehende Modell seine Lösungen anbieten: das Gleiche, und im Notfall das Gleiche effizienter. Die Utopie wagt – zerbrechlich, experimentell, ergänzungsbedürftig, manchmal geradezu mickrig gegenüber der fest verankerten Realität – einen Perspektivenwechsel vorzustellen. Dadurch, dass die Utopie sich nicht darauf konzentriert, ein bestehendes System zu kritisieren, ist sie in der Lage, sich von dessen Logik unabhängig zu machen. Sie wechselt das Feld! Sie setzt nicht auf die verbesserte Organisation eines Mangelsystems, auf die Reparatur, auf das Umformulieren eines Textes mit seiner bestehenden Grammatik. Die Utopie beginnt mit der gefährdeten Besiedelung eines Ortes, der in der Geschichte immer der war, den wir später dann bewohnten. In der Welt, in Europa und in Vorarlberg.

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