Heinz Peter

Publizist und Philosoph © Foto: Norbert Ellensohn

Zeitenwende und Geopolitik

Februar 2023

Vor einem Jahr, am 24. Februar 2022 begann der russische Angriff auf die Ukraine. Seither erleben wir eine Veränderung unseres Wohlstandes und der internationalen Beziehungen. Unsere Nachkriegsgenerationen werden mit einer Wirklichkeit konfrontiert, die vielen unbekannt war. Müssen wir unsere idealistische Sicht auf die Welt ändern und uns neuen Herausforderungen stellen?

Die Zeitenwende ist für jede und jeden von uns sichtbar und spürbar geworden. Die Energiekrise belastet die Budgets der einzelnen Haushalte, der Klein- und Großunternehmen, der öffentlichen Einrichtungen und des Staates. Die Abhängigkeit von Gas und Öl ist offensichtlich. Der völkerrechtswidrige Einmarsch Russlands in die Ukraine hat gezeigt, dass auch in Europa die Zeit der militärischen Auseinandersetzungen nicht vorbei ist und wir wieder gezwungen sind, in unsere Verteidigungsbereitschaft zu investieren. Die weltweiten Lieferketten sind durch die Pandemie und Kriegshandlungen brüchig geworden und haben zu Produktionsausfällen und wirtschaftlichen Verwerfungen geführt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass besonders energieintensive Industrieproduktionen von Europa in die USA wandern, weil dort die Energie bedeutend billiger ist als in Europa. 
Generell lässt sich feststellen, dass der Aufbau unseres Wohlstands in den vergangenen Jahrzehnten auf dem billigen russischen Gas, den günstigen Komponenten aus China und der militärischen Absicherung durch die USA zurückzuführen ist. Rückblickend betrachtet: Sich von russischer Energie abhängig zu machen, war naiv. Die Abhängigkeit von China in wirtschaftlichen Belangen ist gefährlich und die schützende militärische Hand Amerikas hat uns im Kalten Krieg Sicherheiten gegeben, unseren Verteidigungshaushalt niedrig gehalten, aber unsere eigene Verteidigungsbereitschaft geschwächt. Kurzfristig müssen wir jetzt teureres Gas besorgen, die alternative Energieerzeugung schneller ausbauen, die Lieferketten neu konfigurieren und die Verteidigungsbudgets massiv aufstocken. 
Am 27. Februar 2022, drei Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, kündigte Olaf Scholz eine Zeitenwende an. Die Welt werde eine andere. Es gehe um die Frage, ob Macht das Recht brechen dürfe und ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern Grenzen zu setzen. Das setze jedoch eigene Stärken voraus. Damit erleben wir einen Zusammenbruch jener Grundsätze, die Willy Brandt mit „Wandel durch Handel“ als die zentrale Prämisse seiner neuen Ostpolitik bezeichnet hat. Sigmar Gabriel bringt das im Talk bei Sandra Meischberger am 30. August 2022 auf die Kurzformel „Geopolitik schlägt Geoökonomie“. Damit ist Francis Fukuyamas These vom Ende der Geschichte aus dem Jahre 1989 endgültig widerlegt und wir müssen uns daher mit den Aspekten der Geopolitik auseinandersetzen.

Das Machtstreben
Geopolitik dient in den internationalen Beziehungen der Planung einer räumlichen Sicherheit oder einer Expansion. Nach Auffassung von Henry Kissinger und Zbigniew Brzezinski ist Geopolitik Teil einer realistischen Theorie der internationalen Beziehungen. Dabei geht es nicht um die Verwirklichung von Werten, sondern um die Beeinflussung anderer Staaten bei ihren politischen, ökonomischen und geopolitischen Entscheidungen. Den Menschenrechten wird eine untergeordnete Bedeutung beigemessen, die Sicherung von Rohstoffen, Märkten und Meerestrassen ist wichtiger. Nach Hans Morgenthau, einem Begründer der realistischen Schule der internationalen Beziehungen, ist das Machtstreben eine Grundcharakteristik der internationalen Politik. Daher sei der Kampf um die Macht eine Erfahrungstatsache mit universellem Charakter in Raum und Zeit. 
Drei Grundstrukturen kennzeichnen die Formen der realistischen Schule der internationalen Politik: Machterhaltung, Machtvermehrung und Machtdemonstration. Die Machterhaltung soll den Besitzstand sichern. So will beispielsweise Wladimir Putin die Größe und Macht der alten Sowjetunion wiederherstellen; er geht dabei, für alle sichtbar, über Leichen. Die Machtvermehrung hat imperialen Charakter und soll den Herrschaftsbereich erweitern. Die Machtdemonstration präsentiert den Staat als bedeutendes Mitglied der Staatengemeinschaft. So vertritt beispielsweise Henry Kissinger die Auffassung, dass es zwar in der Innenpolitik demokratisch verfasste Spielregeln gibt, die jedoch in der Außenpolitik nicht anwendbar seien, ohne dass ein Schaden für das Gemeinwesen entstehe.
Eine idealistische Schule
Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass es auch eine idealistische Schule der internationalen Beziehungen gibt. Sie basiert auf den Grundrechten der Bürger, die sich – zusammen mit anderen Weltbürgern – solidarisch vereint fühlen und eine andere Form von Außenpolitik anstreben. Die Gründung der Heiligen Allianz, des Völkerbundes und der Vereinten Nationen sind Ausdruck dieses idealistischen Paradigmas. Die Heilige Allianz, 1815 nach dem Wiener Kongress gegründet, verpflichtete Russland, Österreich und Preußen im Namen der göttlichen Dreifaltigkeit, die gegenseitigen Beziehungen auf jene Wahrheiten zu gründen, die die Religion lehrt: Gerechtigkeit, Liebe, Frieden. Dieser vertraglichen Vereinbarung traten England, Frankreich und der Vatikanstaat nicht bei. Die Heilige Allianz zerbrach in der Mitte des 19. Jahrhunderts an den sich verstärkenden Interessengegensätzen der europäischen Großmächte. 
Der Völkerbund als Vertrag über zwischenstaatliche Vereinbarungen war ab 1920 in Kraft und wurde im Jahre 1946 aufgelöst. Kernbegriffe dieser idealistischen Konzeption waren Weltfrieden, Partnerschaft und kollektive Sicherheit. Enthalten waren Garantien für die politische Unabhängigkeit und territoriale Integrität von großen und kleinen Staaten. Die im Vertrag enthaltenen idealistischen Vorstellungen konnten realpolitisch nicht umgesetzt werden. 
Die Vereinten Nationen, 1945 gegründet, sollten internationalen Frieden und Sicherheit gewährleisten. Oberstes Exekutivorgan ist der Sicherheitsrat, der die Aufgabe hat, Vorschläge zur Errichtung eines Systems der Waffenkontrolle zu machen und die Erhaltung und Wiederherstellung des Friedens zu sichern. Um dies zu erreichen können Zwangsmaßnahmen, wie beispielsweise Sanktionen, verhängt werden. Jene fünf Staaten, die im Jahre 1945 die Vereinten Nationen gegründet haben, können gegen diese Sanktionen jedoch ein Veto einlegen und damit nicht belangt werden. Damit wird das idealistische Konzept, das die Gründung der UNO bewirkt hat, ausgehebelt und dies bedeutet, dass die UNO die kriegerische Willkür nicht bändigen kann, sondern jene globale Anarchie zur Kenntnis nehmen muss, die aus der Macht des Stärkeren resultiert.
Denken in Zyklen
Veränderungen im Wohlstands- und Machtgefüge unserer Weltordnung, die sich auf alle Länder auswirken können, lassen Analytiker zu Wort kommen, die in Zyklen denken. George Friedman hat sich mit den Spaltungstendenzen in Amerika, der heraufziehenden Krise und einem Triumph am Ende eines Zyklus beschäftigt. Nach seiner Auffassung durchläuft die US-amerikanische Geschichte und ihr wirtschaftlicher Ablauf eine rhythmische Kurve, die alle 50 Jahre zu einer Krise führt. Beim Eintreten der ersten Krisensymptome reagiert die politische Elite mit der Aufforderung „weitermachen, wie bisher, aber mit verstärkter Anstrengung“. Ein Teil der Gesellschaft widerspricht dieser Aufforderung: die alte politische Elite und ihre Sicht auf die Welt werden verworfen. Neue Werte, neue politische Inhalte und neue Führer treten an die Öffentlichkeit. So entsteht eine Phase politischer Instabilität und die aufeinanderprallenden sozialen Kräfte, die die Gesellschaft spalten, mobilisieren unzivilisierte Feindseligkeiten, wie den Sturm auf das Kapitol, und stehen oft in Verbindung mit neuen Kommunikationstechnologien, die für die Verbreitung von Wut und Hass verantwortlich gemacht werden. Eine solche Phase, der letzte Teil eines Zyklus, dauert nach Friedman etwa zehn Jahre und führt dann zu einem politischen Wechsel. In diesen zehn Jahren erschöpft sich die Dynamik der alten Ära, die wirtschaftlichen Probleme und die sozialen Spannungen verstärken sich. Es wird noch einmal ein Präsident gewählt, der die alten Werte verkörpert, damit scheitert, den Übergang in einen neuen Zyklus nicht schafft, sondern unbewusst dafür sorgt, dass er nach ihm stattfinden kann. Ein neuer Präsident wird gewählt, der Bruch mit der Vergangenheit wird essenziell. Friedman ist der Meinung, dass mit Donald Trump die letzte Phase des alten Zyklus begonnen hat. Nach seiner Prognose findet nach 2030 ein grundlegender Wechsel statt, der den Beginn eines neuen 50-jährigen Zyklus darstellt.

Ordnung und Chaos
Neben George Friedman hat sich auch Ray Dalio mit dem Auf und Ab wirtschaftlicher, politischer, militärischer und finanztechnischer Zyklen beschäftigt. Dalio spricht von drei Zyklen, die für Ordnung und Chaos verantwortlich sind. Ein innenpolitischer Zyklus beschreibt den Beginn einer neuen Ordnung, ihren Aufstieg, die Phase ihres Höhepunktes und ihren Niedergang. Im außenpolitischen Zyklus gibt es Perioden des Friedens und des Wohlstands, die aber schon den Keim für die nächsten Kriege in sich bergen können. Der langfristige Kredit- und Kapitalmarktzyklus beschreibt Phasen des Wohlstands, die früher oder später in Form von Kreditblasen zu einem starken Wohlstandsgefälle führen und letztlich zu Kreditkrisen, die wiederum Kriege und Wiederaufbauphasen einleiten können. Eine neue Ordnung entsteht, die von jenen, die als Sieger aus den Auseinandersetzungen hervorgegangen sind, bestimmt wird.

Die Position der Imperien
In der Analyse des außenpolitischen Zyklus ist die Position der großen Imperien im Verhältnis zueinander von besonderer Bedeutung. So überholten die USA im Ersten Weltkrieg das Vereinigte Königreich und setzten sich bis heute an die Spitze. Seit Ende des 20. Jahrhunderts expandiert jedoch China und hat im Handel, bei der Wirtschaftsleistung und im Hinblick auf Innovation und Technologie massiv aufgeholt. Auch in der Bildung und in der militärischen Entwicklung setzt China starke Impulse. Chinas Staatspräsident erklärt offen, dass Chinas Politik das Ziel hat, wirtschaftlich und militärisch mit den USA gleichzuziehen beziehungsweise sie zu überholen. Dies soll bis 2050 der Fall sein. Damit wird das Verhältnis zwischen China und Amerika zukünftig von besonderer Bedeutung sein. Einige Politologen gehen davon aus, dass es durchaus zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen China und den Vereinigten Staaten von Amerika kommen könnte, wobei der wahrscheinlichste Auslöser der Konflikt um Taiwan wäre. Aber auch andere Konfliktlinien im pazifischen Raum werden als mögliche Verursacher genannt. 
Für Europa ist es in diesem Fall wichtig, die möglichen wirtschaftlichen, militärischen und energiepolitischen Konsequenzen zu erfassen, um entsprechende Vorsorgen treffen zu können. Und vergessen wir nicht: um die Klimaziele zu erreichen brauchen wir Maßnahmen anstatt Worte.

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