Carola Schneider

Zwischen Großmacht-Nostalgie und Abschottung

Oktober 2014

Seit der Annexion der Krim ist Präsident Putin in Russland so populär wie seit Langem nicht mehr. Die Sanktionen des Westens lassen die Russen noch enger zusammenrücken. Doch Putin führt sein Land immer weiter in die Isolation. Und Kritiker gelten als Vaterlandsverräter.

Tausende Menschen versammeln sich auf dem Puschkin-Platz im Stadtzentrum von Moskau, drängen sich durch die Kontrollposten der Polizei. Pensionisten mit Blumen in der Hand, Mütter und Väter mit Kindern auf den Schultern, Studenten mit selbst gebastelten Plakaten, auf denen gepinselt steht: „Frieden für die Ukraine und Freiheit für Russland.“ Es ist die erste regierungskritische Großkundgebung seit einem halben Jahr. Die Demonstranten wollen ein Zeichen setzen, vor allem gegen die Ukraine-Politik von Präsident Putin, aber auch gegen die immer massiveren Einschränkungen der russischen Zivilgesellschaft. Der Demonstrationszug setzt sich allmählich in Bewegung. Plötzlich fliegen Eier und Tomaten durch die Luft, mehrere Kundgebungsteilnehmer werden getroffen. Geworfen haben sie ein paar Störenfriede, die die Flaggen der von prorussischen Separatisten ausgerufenen Volksrepubliken Donezk und Lugansk in der Ostukraine schwenken und lauthals brüllen. Von ihnen stammt auch das riesige Banner, das an einer Hauswand neben dem Demonstrationsgelände hängt. Darauf werden prominente russische Schriftsteller und Sänger, die Putins Ukraine-Politik kritisieren, als Vaterlandsverräter bezeichnet – darunter die auch in Europa viel gelesene Autorin Ludmilla Ulizkaja und der seit Sowjet­zeiten populäre Rocksänger Andrej Makarewitsch. Seit Makarewitsch vor Kurzem in der Ukraine ein Konzert gegeben hat, sieht er sich im heimatlichen Russland einer Hetzkampagne ausgesetzt, wird in Sendungen der Kreml-gesteuerten Fernsehkanäle und in den Boulevardblättern als Verräter beschimpft.

Ein tiefer Graben in der Gesellschaft

Die Ukraine-Krise hat einen tiefen Graben durch die russische Gesellschaft gezogen. Seit der Annexion der ukrainischen Krim, die von Putin als „historische Gerechtigkeit“ bezeichnet wird, scharen sich so viele Russen hinter ihrem Präsidenten wie seit Langem nicht mehr. Laut Umfragen unterstützen fast 90 Prozent der Russen seinen politischen Kurs. Putin gibt den Russen das Gefühl, dass das Land wieder eine Großmacht ist, die, wenn schon nicht geliebt, so zumindest wieder gefürchtet wird. Weder die völkerrechtswidrige „Heimholung“ der Krim noch das Anheizen des Ostukraine-Konflikts durch den Kreml werden von der überwiegenden Mehrheit der Russen als illegitim empfunden. Befeuert wird diese Überzeugung durch die beispiellose Propaganda, die seit Monaten aus den Fernsehkanälen quillt, die – mit Ausnahme von kleinen Kabel- oder Internetsendern – alle unter der Kontrolle des Kreml stehen. Ohne mit der Wimper zu zucken, werden Schauergeschichten in den russischen Wohnzimmern verbreitet – wie die Aussage einer ukrainischen Flüchtlingsfrau, die erzählt, in ihrem Heimatort in der Ostukraine hätten die Faschisten aus Kiew einen sechsjährigen Buben gekreuzigt. Als mehrere Journalisten unabhängiger Zeitungen dieser angeblichen Kreuzigung nachgingen, stellte sie sich als frei erfunden heraus. Mit der gleichen Inbrunst, mit der die ukrainische Regierung als faschistisch beschimpft wird, bezeichnen die Kreml-Sender die europäischen Politiker als dekadente, schwule Schwächlinge und die USA als aggressiven Möchtegern-Weltbeherrscher, der nichts anderes im Sinn hat, als Russland in die Knie zu zwingen.

Rückkehr in sowjetische Zeiten

Das Drohszenario eines von Feinden umzingelten Russland, das nur von einem einzigen starken Mann geschützt werden kann, lässt in vielen ungute Erinnerungen wach werden. Russland sei in die sowjetischen Zeiten der totalen Lüge zurückgekehrt, warnt etwa der preisgekrönte Schriftsteller Michail Schischkin in einem Essay. Heute leben viele regierungskritische Russen wieder in Angst. Eine russische Freundin erzählt mir, dass sie nicht mehr im Bus oder in der U-Bahn darüber sprechen will, dass sie die Politik Putins ablehnt. Sie will nicht öffentlich als Russland-Verräterin angepöbelt werden. Die hurra-patriotische Welle, die Russland erfasst hat, macht auch vor Ausländern nicht halt. Erst vor Kurzem versuchte ich vergeblich, einem Taxifahrer in Moskau zu erklären, dass ich Russland nicht hasse, nur weil ich Europäerin bin, und als ORF-Korrespondentin auch nicht von der NATO gesteuert werde.

Während der Westen mehr oder weniger fassungslos zusieht, wie Putin in Europa Grenzen neu zieht und sich dabei auch von Wirtschaftssanktionen nicht beeindrucken lässt, geht er in Russland mit immer härterer Hand gegen die Zivilgesellschaft vor – ein Kurs, den er schon vor zwei Jahren nach seinem dritten Amtsantritt als Präsident einschlug, als Hunderttausende Russen auf die Straße gingen, um gegen Wahlmanipulationen und für ein demokratisches Russland zu demonstrieren. Von diesen Massenprotesten ist nichts mehr übrig geblieben. Die Oppositionsführer, die damals an der Spitze der Kundgebungen standen, sitzen heute im Gefängnis oder stehen unter Hausarrest. Jahrelange Haftstrafen fassten auch Dutzende junge Demonstranten aus.

Abschottung bereits angekündigt

Während Bürgerrechtler, unabhängige Wahlbeobachter und Oppositionelle als Verräter und „ausländische Agenten“ gebrandmarkt werden, geraten auch die letzten verbliebenen liberalen Stimmen in der Medienlandschaft unter Druck. Vor Kurzem beschloss das Parlament ein Gesetz, das die zulässige ausländische Beteiligung an russischen Medienunternehmen von bisher 50 auf maximal 20 Prozent reduziert. Auch das Internet  wird weiter eingeschränkt. Künftig sollen persönliche Daten von Russen nur noch auf in Russland befindlichen – und damit für die Inlandsgeheimdienste zugänglichen – Servern gespeichert werden dürfen. Wenn Google, Facebook und Co. sich weigern, können ihre Dienste in Russland schlichtweg abgeschaltet werden. Der Kreml geht noch weiter: Derzeit überlegt er laut, das russische Internet in Krisensituationen überhaupt vom globalen Netz abzuschotten. Solche Situationen könnten militärische Einsätze sein, präzisiert Putins Pressesprecher Peskow. Oder aber Massenproteste in Russland. Warum Putin diesen Kurs fährt, ist Thema vieler Spekulationen und Theorien. In Wahrheit kennt niemand die Strategie des russischen Präsidenten, der sich angeblich nur noch mit wenigen Vertrauten aus dem riesigen Geheimdienst- und Sicherheitsapparat umgibt und für kaum jemanden mehr zugänglich ist. Ist es die Fantasie, ein großrussisches Reich zu schaffen, als Gegenpol zum dekadenten Westen? Oder der Wunsch, um jeden Preis an der Macht zu bleiben? Dabei nämlich würden starke Oppositionsparteien und kritische Medien im eigenen Land ebenso stören wie eine selbstständige Ukraine, die sich aus dem russischen Einfluss löst und zu einem modernen und demokratischen Land entwickelt.

Kommentare

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Russland
Wie selbstständig kann ein Land (Ukraine) sein, dass in diesem Ausmaß verschuldet ist? Wer will sich aus russischem Einfluss lösen? Und meinen Sie mit modern und demokratisch jene Form von Demokratie wie sie täglich von der EU auf die Bühne gebracht wird? Manchmal ist weniger mehr!