Jens Lubbadeh

Wie dick bin ich wirklich?

Juni 2016

Unser Autor macht sich große Sorgen. Man sieht es ihm nicht an, doch er nimmt ständig zu. Er fürchtet, unsichtbares Fett wachse in seinem Inneren heran.

Früher sollten Männer sich von Fröschen in Prinzen verwandeln. Heute ist es genau umgekehrt. Wer heute Hosen kaufen will, braucht Froschbeine. Er hat die Auswahl zwischen „Slim Fit“ und „Skinny“. Kermit-Beine sind die Norm. Mit viel Glück findet man noch die Kategorie „Straight“. Wo andere Spaß am Shoppen haben, fühle ich mich wie ein Mammut kurz vor dem Aussterben. Wie ein riesiges Wesen, neben dem nur noch skinny-slimme Fröschlein herumhüpfen und darauf warten, dass der Meteor endlich einschlägt.

Selbst die Verkäuferinnen sind empört über die Frosch-Perspektive. „Wenn es nach uns ginge, würden wir das auch nicht bestellen“, sagt eine, an deren Schulter ich mich ausheule. „Ich frage mich auch immer, was ich meinem Freund noch kaufen soll“, klagt eine andere. Sei kein Frosch, heißt es. Das gilt nun nicht mehr. Bin ich dick geworden? Oder ist die Welt um mich herum magerwahnsinnig?

Gut, mein Gewicht hat sich nach oben hin entwickelt. Jahrelang wog ich kon­stant 90 Kilogramm. Bei 1,90 Meter Körpergröße war ich damit laut Body-Mass-Index (BMI) schon an der Grenze zum Übergewicht, obwohl mir alle sagten, ich sähe so schlank aus. Vor fünf Jahren begann die Waage langsam Veränderungen anzuzeigen. 93 Kilogramm? Das erklärte ich mir mit massivem Muskelwachstum infolge des Krafttrainings, mit dem ich begonnen hatte. 95 Kilo? Musste das massive Knochenwachstum sein, denn die vielen Muskeln müssen ja irgendwo ansetzen. Eine völlig plausible Erklärung, aber eine gewisse Nervosität verspürte ich dennoch. Bei 98 Kilo setzte die Panik ein. Ich begann an allen Schrauben zu drehen. Noch mehr Krafttraining, noch weniger Schokolade, noch weniger Alkohol. Bis dann der Tag kam, an dem ich dreistellig wurde. Mein Selbstbild brach zusammen.

Laut BMI bin ich nun klar übergewichtig. Das Rätselhafte aber ist: Ich sehe immer noch nicht so aus. Und das sagt mir auch jeder. Lügen die alle, oder habe ich womöglich Viszeralfett? Dieses in der Bauchhöhle versteckte Fett gilt als besonders heimtückisch. Es erhöht das Risiko für Arteriosklerose, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Und: Niemand ist sicher. Auch unverdächtige, sportliche Menschen können innerlich verfettet sein. Es gibt Fernsehdokumentationen, in denen Schlanken in Jogginghosen das selbstsichere Lächeln gefriert, nachdem sie aus dem Körper-Scanner herausgezogen wurden. Beim Blick auf die MRT-Aufnahmen erkennen sie: Ich bin ja voller Fett! Viszeralfett ist ein bisschen so wie das „Alien“. Man sieht es nicht, aber es ist in einem. Und es wächst.

Auch in mir? Irgendeinen Grund muss es ja haben, dass ich immer schwerer werde. Inzwischen gestehe ich mir ein, dass das Gewicht nicht allein mit Muskeln und Knochen zu erklären ist. Die Gänge auf die Waage werden seltener. Ich will nicht sagen, dass ich mich nicht mehr traue. Es ist nur so, dass die Liste der notwendigen Voraussetzungen immer länger wird:
›    Ist es frühmorgens? (Magen leer)
›    Ist die Verdauung abgeschlossen? (Darm leer)
›    Ist gejoggt worden? (Schweißverlust)
›    Wurde am Vorabend eine Sauna besucht? (Noch mehr Schweißverlust)
›    Sicher, dass am Vorabend nur eine kleine Mahlzeit eingenommen wurde? (Absolut notwendige Bedingung)
›    Ist ausgeschlossen, dass die Waage an einem technischen Defekt leidet? (Frage gegebenenfalls nach dem Wiegen noch einmal stellen)

Alle drei Monate aber droht der Tag der Wahrheit. Ich bin Asthmatiker und muss regelmäßig bei meiner Ärztin zum Check-up. Und da muss ich auch immer auf die Waage. Oder sollte ich sagen: aufs Schafott?

Süß auch, wie meine Ärztin immer versucht, mich zu beruhigen. Bei 95 Kilo rühmte sie meine Muskeln. Bei 98 Kilo war sie schon etwas verwirrt, zitierte aber Studien, laut denen ein Plus auf der Waage auch ein Plus an Lebensjahren bedeutet. Der BMI hat sich nämlich überlebt. Das Körpergewicht geteilt durch das Quadrat der Körpergröße galt lange Zeit als das Maß aller Körper, der Wert 25 als Maginot-Linie zwischen dünn und dick. Wer einen BMI über 25 hat, ist übergewichtig, wer die 30 reißt, ist fettleibig. Dass der BMI aber nicht nur bei Menschen wie Arnold Schwarzenegger versagt, haben in den letzten Jahren mehrere große Studien gezeigt: BMI-Übergewichtige leben länger als BMI-Normalgewichtige.

Das aber ist kein Freibrief für die Fettleibigen. Die leben nach wie vor erwiesenermaßen ungesund. Und so mahnte auch meine Ärztin, mein Gewicht dürfe nun wirklich nicht weiter steigen. Doch es stieg weiter. Bei meinem letzten Besuch wog ich 101 Kilo. Meine Ärztin sagte nichts mehr.

Heute ist es wieder so weit. Wiege-Tag. Judgementday. Ich habe wirklich alles gemacht. Seit Monaten Sport, mindestens zweimal die Woche. Ausdauer- und Krafttraining. Ich befolge die Mittelmeerdiät so strikt, dass ich mittlerweile wahrscheinlich mediterraner esse als ein Grieche, ein Italiener und ein Spanier zusammen – natürlich ohne Pasta und Brot, Kohlenhydrate sind schließlich Teufelszeug. Alkohol? Nur, wenn’s nicht anders geht. Schokolade? Fühlt sich fast schon illegal an.

In meiner Verzweiflung bin ich auch zu extremen Maßnahmen bereit. Gerade komme ich vom Blutspenden. Eigentlich vorbildlich. Aber ich gestehe, ich habe es aus niederen Beweggründen getan. Ach was, nicht wegen der 18,50 Euro Aufwandsentschädigung. Und schon gar nicht wegen der kohlenhydratverseuchten Muffins, die es in der Blutspende-Zentrale gibt. Ich wollte Gewicht verlieren. 500 Milliliter Blut sind 530 Gramm, Blut ist ja bekanntlich dicker als Wasser. Mein Kalkül: Vielleicht wird das morgen das Zünglein an der Waage sein und mich wieder in die Zweistelligkeit bringen.

Ich stehe auf der Praxis-Waage und traue mich kaum, den Blick nach unten zu richten. „500 Gramm weniger als beim letzten Mal“, sagt meine Ärztin zufrieden. Ich triumphiere. Mein Plan ist aufgegangen! Aber als ich meinen Blick senke, sehe ich drei Ziffern auf der Anzeige leuchten. Die Dreistelligkeit. Es hat nicht gereicht, um ihr zu entfliehen. Aber vielleicht muss ich das auch nicht. Denn meine Ärztin hat auch eine gute Nachricht. Meine Blutwerte sind alle top. Das heißt: Ich habe keinen Fett-Alien in mir, der mich krank macht. Dass ich trotzdem zugenommen habe, muss schlicht daran liegen, dass der Stoffwechsel mit dem Alter langsamer wird. Muskelmasse wird abgebaut, Fett setzt dafür leichter an. Der normale Lauf der Dinge.

Was soll’s. Bis zum nächsten Wiege-Termin habe ich wieder drei Monate Zeit. Vielleicht spende ich dann vorher auch noch Blutplasma.

 

Gesund trotz Übergewicht

In einer Metaanalyse kam die Epidemiologin Katherine Flegal zu einem überraschenden Fazit: Ein paar Kilo zu viel sind gesund. Übergewichtige mit einem Body-Mass-Index (BMI) zwischen 25 und 30 hatten eine höhere Lebenserwartung als diejenigen mit einem BMI unter 25 (JAMA: Flegal et al., 2013). Eine aktuelle Studie an 40.000 Amerikanern verstärkt die Zweifel an der Aussagekraft des BMI: Janet Tomiyama und Jeffrey Hunger analysierten BMI und Blutfettwerte. Demnach ist die Hälfte der laut BMI Übergewichtigen und sogar ein Drittel der Fettleibigen metabolisch völlig gesund („Nature“: Tomiyama et al., 2016). Dafür hatte ein Drittel der BMI-Schlanken ungesunde Blutwerte. „Ja, es gibt den gesunden Dicken“, sagt Andreas Pfeiffer, Endokrinologe und Ernährungsmediziner an der Charité Berlin. Eine Absolution für starkes Übergewicht sei das trotzdem nicht. „Ab der Schwelle zur Adipositas steigt das Krankheitsrisiko deutlich.“ Viele Experten raten, nicht den BMI, sondern den Bauchumfang zu prüfen. Männern empfehlen sie maximal 94 Zentimeter, Frauen 80 Zentimeter.

 

Gutes Fett, böses Fett

Der falsche Speicherort gefährdet die Gesundheit: Der Körper speichert Fett an verschiedenen Stellen. „Das Fett unter der Haut ist ein gesunder Energiespeicher. Solange Fett dort landet, ist es gut“, sagt Andreas Pfeiffer, Endokrinologe und Ernährungsmediziner an der Berliner Charité. Nur leider tut es das nicht immer. Auch in der Bauchhöhle legt der Körper Fettreserven an. Und die sind problematisch.

Unsichtbar
Viszerales Fett ist – anders als das unter der Haut – nicht direkt sichtbar, weswegen auch schlanke Menschen zu viel Fett in der Bauchhöhle haben können. Erst ab einer gewissen Menge macht sich das Viszeralfett indirekt durch eine Vergrößerung des Bauchumfangs bemerkbar. „Mehr als 80 Zentimeter Bauchumfang sind ein erster Hinweis“, sagt Andreas Pfeiffer. Doch auch das zeigt noch nicht genau, wie viel Fett nun unter der Haut und wie viel in der Bauchhöhle steckt. Direkt sichtbar machen kann man Viszeralfett nur mit einer Ultraschalluntersuchung oder einer Magnetresonanztomografie, die aber teuer und aufwendig ist.

Schädlich
Das viszerale Fett um die inneren Organe herum gilt als Mitverursacher von gefürchteten Erkrankungen wie Diabetes, Arteriosklerose, Herz-Kreislauf-Leiden und Krebs, möglicherweise auch von Demenz. Neben dem Bauchumfang geben insbesondere die Blutwerte deutliche Hinweise. Viszerales Fett hat einen anderen Stoffwechsel als normales Fettgewebe. Es lockt Entzündungszellen an und setzt Fettsäuren und Entzündungshormone ins Blut frei. Diese Substanzen spielen bei der Entstehung von Diabetes und Arteriosklerose eine wichtige Rolle, was das Viszeralfett gefährlich macht. Aber daran kann man es auch erkennen, denn das, was krank macht, hinterlässt Spuren im Blut. Niedriges HDL-Cholesterin und hohe Werte bei Blutdruck, Blutzucker, Triglyceriden und beim Entzündungsmarker CRP sind deutliche Hinweise auf Viszeralfett.

Hartnäckig
Nimmt man zu, baut sich Fett auf. Ob und wie viel davon viszerales Fett wird, hängt stark von Genen und Hormonen ab. Das weibliche Geschlechtshormon Östrogen wirkt dem viszeralen Fett entgegen, weswegen Frauen bis zur Menopause vor allem an Hüfte, Oberschenkeln und Po zunehmen. Männer sind schon früher gefährdet. Nach der Menopause ändert sich das auch für die Frauen: Dann verlieren sie meist ihre Taille und bekommen ebenfalls einen Bauch, was auch ihr Erkrankungsrisiko erheblich erhöht. Bislang gibt es keine Strategie, gezielt viszerales Fett loszuwerden. Sport reduziert es erwiesenermaßen, wahrscheinlich ist Ausdauersport hier wirksamer als Krafttraining. Ob bestimmte Nahrungsmittel den Abbau von Viszeralfett begünstigen, wird noch erforscht. Generell hilft das Übliche: weniger Kekse, mehr Gemüse. Sicher ist laut Andreas Pfeiffer nur eines: „Wann immer Sie Gewicht verlieren, verlieren Sie auch viszerales Fett.“

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