Gerold Strehle

geboren 1974 in Linz, Architekt, Gründer des Büros für Architektur und Umweltgestaltung in Bregenz und Wien

© Foto: Angela Lamprecht

Im Blick zurück entstehen die Dinge

Juli 2022

„Wir wollen gemeinsam Orte und Räume für das gute Leben schaffen und gestalten“ – auch im Wohnbau?

Was macht den Unterschied zwischen einer unwirtlichen und abweisenden Betriebskantine und der gemütlichen Atmosphäre eines Caféhauses? Warum ändert sich das Gehverhalten der Menschen beim Eintritt in eine ehrwürdige historische Kirche?
Wir Menschen sind seit Urzeiten mit einem räumlich-emotionalen Sensorium ausgestattet, welches uns dabei hilft, die Wahrnehmung von Räumen einzuordnen. Unser Unterbewusstsein reflektiert die Qualität der gebauten Umgebung schneller als es unser rationaler Persönlichkeitsanteil jemals vermag. Während meiner Pariser Studienzeit stellte das Konzept des „moment de bien être“ – der Moment des Wohlbefindens – das zentrale Leitmotiv in der Entwurfsarbeit dar. 
Orte des Wohlbefindens spielen besonders dort eine wertvolle Rolle, wo Aufenthaltsqualität gleichbedeutend ist mit Gästezufriedenheit: In der Gastronomie oder beim temporären Wohnen im Tourismus, bei der Eventlocation und beim Kulturfestival, wo Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit das Maß aller Dinge sind.
Momente des Wohlbefindens – oder anders ausgedrückt: erfolgreiche räumliche und atmosphärische Projekte – entstehen im gelungenen Zusammenspiel von Auftraggebern und Architekten. Klar definierte Projektziele und gemeinsam erarbeitete Rahmenbedingungen stellen die Basis für wegweisende Orte und Räume dar.
Im System der Raumproduktion ist seit längerer Zeit jedoch einiges in Unordnung geraten – und dies vor allem im Bereich der Baustoffindustrie und dem Immobilienmarkt. Die allgemeine extreme Teuerung im Bereich des Bauens und in weiterer Folge auch des Wohnens setzt sich aus mehreren geänderten Rahmenbedingungen zusammen: Weltweit aufgelöste Lieferketten aufgrund der Pandemiebekämpfung führen nach wie vor zu logistischen Problemen. Die kriegerische Auseinandersetzung in der Ukraine ließ die Öl- und Gaspreise dramatisch ansteigen, obwohl noch nicht einmal die Strompreiserhöhung des vergangenen Jahres verdaut war. 
Darüber hinaus zeichnet sich bereits jetzt der Konflikt um eine zukünftig gesicherte Gasversorgung ab, die weite Teile der Baustoffindustrie zittern lässt: Allen voran die energieintensive Glas-, Metall- und Zementindustrie.
Sämtliche dieser beschriebenen Konfliktfelder einer global vernetzten Wirtschaft befinden sich außerhalb unserer Entscheidungssphäre. Keines dieser exterritorialen Probleme lässt sich auf der Ebene eines Bundeslandes lösen. Keine europäische Bauwirtschaft kann sich von diesen Zwängen entkoppeln. 
Gehen wir nun also eine Ebene tiefer und betrachten wir die Ursachen für die Teuerung, die auf Landesebene entstanden sind: Vorarlberg als Bundesland betreibt – im Gegensatz zu Tirol, Salzburg oder Wien – keine aktive Bodenpolitik. Aktive Bodenpolitik bedeutet, dass strategisch wichtige Grundstücke von der öffentlichen Hand gekauft werden und nach einer gemeinwohlorientierten Quartiersentwicklung den Wohnbaugenossenschaften oder anderen Nutzungen zur Verfügung gestellt werden. Nachdem diese Grundstücke für einige Zeit dem spekulativen Immobilienmarkt entzogen sind und die öffentliche Hand der Gemeinnützigkeit verpflichtet ist, bleiben diese Grundstücke dadurch günstiger als vergleichbare Liegenschaften. 
Dieses Konstrukt führt daher indirekt zu einer Dämpfung von Mietpreisen. Darüber hinaus kann die öffentliche Hand steuernd bei der Quartiersentwicklung eingreifen, um negativen Entwicklungen entgegenzuwirken.
Ein weiterer Grund für die hohen Wohnpreise hierzulande ist die Zusammensetzung des Marktes für Wohnraumschaffung an sich: Hochgerechnet auf die Einwohnerzahl betreiben in Wien mehr als viermal so viele gemeinnützige Wohnbaugesellschaften ihr Geschäft als hier in Vorarlberg. Das bedeutet nichts anderes, als dass die Wohnraumproduktion und die Gestaltung der Wohnpreise den privaten Bauträgern überlassen werden. Diese Unternehmen unterliegen nicht dem Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz, sondern lediglich dem Gesetz des Marktes: Angebot und Nachfrage. 
Die Nachfragenden in diesem Marktsegment setzen sich im Wesentlichen aus den hier arbeitenden und wohnenden Vorarlbergern mit ihren Familien, aus Ferienvorarlbergern und aus Kapitalmarktvorarlbergern zusammen. Ich überlasse Ihnen die Antwort, wer hier die Preise gestaltet. 
Die Frage der Marktzusammensetzung im Bereich des Wohnbaus wird – wie Sie am Vergleich mit Wien vielleicht schon erkannt haben – politisch und daher auch ideologisch definiert: Die Frage nach wessen ideologischer Vorstellung die Wohnraumpolitik gestaltet wird stellt sich für uns Bürger in Form von Landtagswahlen alle fünf Jahre. Nachdem in Wien andere politische Verhältnisse herrschen als in Vorarlberg verfügt die Bundeshauptstadt über günstigere Mietpreise als Vorarlberg. Diese Eigenschaft der nach wie vor – im internationalen Vergleich – moderaten Mietpreise verleiht unserer Bundeshauptstadt höchste Anerkennung aus allen Richtungen.
Welche Gestaltungsmöglichkeiten sich in einer vitalen Demokratie ergeben, beweist der Wechsel eines konservativen zu einem sozialistischen Bürgermeister in Bregenz im Jahre 1970: Nach nur fünf Monaten Amtszeit von Fritz Mayer wurde der Bau der größten Wohnsiedlung des Landes beschlossen. In Bregenz befanden sich damals fast eintausend Personen auf der Warteliste für eine Gemeindewohnung. Zum Vergleich: Zum Beginn des Jahres 2022 befanden sich in Dornbirn rund 900, in Bregenz 700 und in den Hofsteiggemeinden – zusammengerechnet die drittgrößten Stadt Vorarlbergs – rund 800 Menschen auf der Warteliste für eine Gemeindewohnung! 
Wie tief das (Miss)-Verständnis für die Preisproblematik im Wohnbau hierzulande wurzelt zeigt die Tatsache, dass bisher keine einzige Gemeinde die Maßnahmen anwendet, welche die Raumplanungsgesetzesnovelle seit drei Jahren bietet, um dämpfend auf die Grundstückspreise zu wirken: Bisher wurden weder Dichtezonen noch Vorbehaltsflächen für den sozialen Wohnbau gewidmet.
Verlassen wir nun das politische Terrain und wenden wir uns dem Wohnbau im eigentlichen Sinne zu: In diesem Zusammenhang wäre es angemessener von einem Geschäftsmodell zu sprechen. Beim überwiegenden Teil unserer Wohngebäude sind die städtebaulichen Qualitäten noch ausbaufähig, die Berücksichtigung des öffentlichen Raums sollte mehr als die verwertungstechnischen Aspekte in den Fokus gerückt werden.
Gerne führe ich bei dieser Diskussion die ausgearbeiteten städtebaulichen Wohnmodelle des Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) nach dem ersten Weltkrieg ins Treffen und erinnere an die hiesigen Arbeitersiedlungen der Textilgrößen Schöller und F.M. Hämmerle: Thematisch unter dem Titel „Wohnen am Existenzminimum“ wurden damals hochqualitative Wohnformen entwickelt, die angesichts unserer gegenwärtigen Entwicklung aktueller denn je sind. 
Aus hundert Jahren Entfernung betrachtet, erlauben diese Wohntypologien trotz der räudigen Bausubstanz immer noch sehr hochwertiges, vor allem aber „dichtes“ Wohnen – Qualitäten, die auch im sanierten Zustand erhalten bleiben können. Beim überwiegenden Teil des Wohnbaus in Vorarlberg ist eher das Gegenteil der Fall: Einer fast unkaputtbaren Bausubstanz steht eine monofunktionale, einheitliche und durchschnittliche Gestaltung gegenüber… in der Welt der Tiere und der Pflanzen sind dies keine guten Voraussetzungen für ein langes Leben.
Ich möchte zum Abschluss dieser Ausführungen bei Ihnen, geneigte Leserin und Leser, mit einer ganz besonderen Zahl in Erinnerung bleiben. Und zwar der Zahl, die nach dem Begriff „Errichtungskosten pro Quadratmeter Wohnnutzfläche“ auf dem Ausdruck der Projektkalkulation steht. Bei dieser Zahl sind keine Grundstückskosten, keine Aufschließungskosten, keine Planungskosten, keine Inneneinrichtung oder andere Nebenkosten berücksichtigt. Diese Zahl lautet: 4500 aufwärts.

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