Gernot Brauchle

Rektor der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg

Bildungsgerechtigkeit und das Paradoxon

Mai 2016

Bildungsgerechtigkeit ist heute der Leitbegriff in der Diskussion um Gerechtigkeit im Bildungssystem. Der Begriff, der in den letzten 15 Jahren an Bedeutung gewonnen hat, beschreibt eine angemessene Verteilung von Zugangschancen im Bildungsbereich. Die Diskussion darüber, die Zugänge zu Bildung gerechter zu verteilen, beruht dabei im Wesentlichen auf zwei Erkenntnissen: Erstens wird Bildung heute als etwas existenziell Wertvolles erfahren. Bildung schafft den Zugang zum Arbeitsmarkt und beeinflusst damit die spätere Höhe des Einkommens. Zweitens sind in einem moralisch-politischen Sinne alle Menschen gleich zu behandeln, und so ist es von Bedeutung, die Verteilung von Bildung für alle Menschen gerecht vorzunehmen.

Dennoch zeigt sich in Diskussionen über einen möglichen Versuch, mehr Bildungsgerechtigkeit durch eine veränderte Schulstruktur zu schaffen, dass interessanterweise diese Bemühungen an der Idee von Gerechtigkeit scheitern könnte. Zwar zeigen viele sozialpsychologische Studien, dass Menschen ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Gerechtigkeit haben und jeder in einer gerechten Welt leben will. Dennoch können sie sich einen gerechteren Zugang zu Bildung, eine professionellere frühkindliche Bildung oder vereinfachte Übergänge von beruflicher Bildung und Hochschulbildung kaum vorstellen.

Um mit diesem Widerspruch im Kopf umgehen zu können, überzeugen sie sich selbst, dass im vorhandenen Schulsystem keine Ungerechtigkeit existiert und die Opfer von Ungerechtigkeit ihr Schicksal selbst verursacht haben.

Das Bedürfnis nach Gerechtigkeit wird so zum Paradoxon, da Ungerechtigkeit geleugnet wird und Versuche, Bildungsgerechtigkeit herzustellen, bekämpft werden.