Philipp Ott

Übersetzer und Projektmanager

Krise & Realpolitik

Juni 2020

Faulpelze, Schmarotzertum, Mafiastaaten – dieser Art sind die wenig schmeichelhaften Zuschreibungen, die von den Boulevardmedien der „Sparsamen Vier“ aktuell gegen eine Vergesellschaftung europäischer Schulden zugunsten der von der Coronakrise am stärksten betroffenen südeuropäischen Länder ins Feld geführt werden. Der Logik dieser – übrigens auch empirisch nicht mehr haltbaren – Zuschreibungen folgt auch das Agieren der Regierungschefs Österreichs, Dänemarks, Schwedens und der Niederlande.
Zum Ausdruck kommt darin ein Politikverständnis, das – soweit es aufrichtig ist und nicht politisches Kleingeld aus der Krise schlagen soll, beides spielt eine Rolle – Politik mit angewandter Gesinnungsethik verwechselt. Komplexe Situationen und Zusammenhänge werden dekontextualisiert und anhand moralisierender Maßstäbe bewertet. Der britische Philosoph Raymond Geuss hat in Anlehnung an den deutschen Begriff der „Realpolitik“ eine alternative Auffassung von Politik entworfen, in der Interessen klar definiert und benannt werden und anschließend die jeweils rationalsten Handlungen zur Umsetzung dieser Ziele gesetzt werden.
Selbstverständlich kommt auch dieses Politikverständnis nicht ohne moralischen Gehalt, ohne handlungsleitende Wertvorstellungen aus – aber am richtigen Platz: in der Festlegung langfristig orientierter gesellschaftlicher Zielsetzungen, nicht als moralinsaure Handlungsschablonen. Österreich hat ein vitales Interesse an der Stabilität der Südstaaten – einerseits als gerade im Falle Italiens wichtiger Exportmärkte, andererseits, um den drohenden Zusammenbruch der für Österreich auch wirtschaftlich hochprofitablen EU zu verhindern. Es bleibt zu hoffen, dass der „Imperativ der Sachlichkeit“ (Edgar Zilsel) sich durchsetzen wird.