Walter Schmolly

Direktor der Caritas Vorarlberg

(Foto: © Maurice Shourot)

Orientierungsverlust

April 2016

Rund 500 Jahre europäische Neuzeit sind zwischenzeitlich ins Land gezogen. Am Anfang dieser Epoche und in ihrer aufklärerischen Mitte stehen die Subjekthaftigkeit und die Individualität des Menschen und damit die Würde des Einzelnen. Dieser grundlegende Wert des Christentums, der Humanität und der modernen Menschenrechtskultur ist nach allen dunklen Nächten des neuzeitlichen Europas immer wieder als Leitstern am Wertehimmel erschienen.

In der Diskussion seit Jahresbeginn gibt es die Menschen, die vor Krieg und Not fliehen, nur noch als endlosen „Flüchtlingsstrom“, als anonyme „Masse“, als kollektives Tauschobjekt im EU-Türkei-„Deal“. Die Flüchtlingspolitik ist zum Zäune bauenden „Grenzmanagement“ verkommen, das uns verängstigten Bürgern die bedrohlichen „Horden“ jenseits der Zäune als Gegengewicht anbietet. Das müsse sein, damit die „Stimmung“ der Bevölkerungs-Masse nicht aus dem Gleichgewicht kippe, wird uns erklärt.

Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Die Verunsicherung sehr vieler Menschen ist eine Realität, dieser gilt es auf Augenhöhe zu begegnen. Und es braucht selbstverständlich in Europa ordnende Prinzipien im Umgang mit den vielen Menschen, die auf ihrer Flucht vor Krieg, Gewalt und Verfolgung Schutz suchen. Aber wenn es in den öffentlichen Diskursen die Flüchtlinge immer mehr nur noch als bedrohliche Masse gibt, dann ist das Ganze aus dem Lot geraten. Der Kompass muss neu ausgerichtet werden im Kraftfeld der christlich-europäischen Geschichte. Es muss wieder so sein, dass wir in den Flüchtlingen Menschen sehen und dass ihre Not und ihre Hoffnungen uns anrühren können. Damit rede ich nicht der Blauäugigkeit das Wort. Es kommen nicht nur Heilige zu uns. Aber es sind Menschen, nicht nur Probleme. Darin liegt auch der Schlüssel zur Solidarität, möglicherweise sogar zwischen den europäischen Staaten.